„Blast“ von Manu Larcenet entbehrt den oft autobiografischen Kontext seiner Arbeiten – z.B. in „Die Rückkehr aufs Land“ oder „Der alltägliche Kampf“ – hoffentlich … Denn Blast erzählt in vier mächtigen Bänden, dessen letzter gerade erschienen ist, von einem Aussteiger, der alle gesellschaftlichen Konventionen hinter sich lässt – ohne Ausnahme. Zwei Polizisten befragen Polza Mancini, der einen Mord begangen haben soll: Nach dem Tod des Vaters stieg er aus, lebte im Wald, stank, fraß, soff und nahm Drogen, auf der Suche nach der Ekstase, die er den Blast nennt. Dabei lernt der unförmige Hüne gute und schlechte Menschen kennen, erleidet deren Hohn und Gewalt, landet in der Psychiatrie und wird schließlich von der Polizei gejagt. Larcenet ist mit seinen düsteren Schwarzweisszeichnungen ein beeindruckendes, existentialistisches Porträt mit psychopatischen Zügen gelungen (Reprodukt).
Jacques Tardi ist gleichermaßen für seine Krimiadaptionen wie für seine Aufarbeitung des ersten Weltkriegs bekannt. Mit „Ich, Rene Tardi ...“ widmet er sich erstmals dem Zweiten Weltkrieg. Im ersten Band schilderte er an Hand der Tagebuchaufzeichnungen seines Vaters den Kriegsbeginn, dessen frühe Gefangenschaft und den Alltag im Lager. Der zweite Band „Der lange Marsch durch Deutschland“ erzählt von der viermonatigen Heimkehr am Ende des Kriegs. Tardis Kunstgriff, sich selber – obwohl damals noch nicht geboren – als Jugendlichen im Dialog mit seinem Vater in die Szenerie einzubauen funktioniert großartig. Reflexionen des Vaters finden so ebenfalls wie Anmerkungen Tardis wie Korrekturen historischer Fakten Einzug in den Tagebuchtext des Vaters. Ein aufwühlendes Werk (Edition Moderne). „Jerusalem“ von Boaz Yakin und Nick Bertozzi demonstriert auf einer Ebene jenseits ästhetischer Kriterien eine Qualität des Comics, die den Film aussticht: Yakin hat ursprünglich ein Drehbuch über seine Familiengeschichte zur Zeit der Gründung Israels geschrieben. Schnell war klar, eine Verfilmung ist viel zu teuer. Seitdem filmt er vor allem Kram wie „Dirty Dancing 2“ oder „Prince of Persia“, die Herzenssachen wie „Jerusalem“ hingegen realisiert er kostengünstig als Comic. Thema ist die gewalttätige Zeit der Jahre ’40 bis ’48, als die Juden in Palästina gegen die britischen Besatzer mobilisierten. Der Verlag Panini hat vor kurzem erst eine Graphic Novel über die „Stern-Bande“, eine jüdische Terroristenvereinigung der 40er Jahre veröffentlicht. Nun erscheint mit „Jerusalem“ ein persönlicherer Blick auf diese Zeit und zeigt actionreich die Auseinandersetzungen zwischen Arabern, Juden und Briten, aber auch zwischen Kommunisten und Klerikern (Panini).
Michael Chos „Shoplifter“ ist eines jener typischen Comicformate, die sich dem Etikett Graphic Novel verweigern (obwohl der Verlag eben jenes auf das Cover druckt). Definitiv zu kurz für einen Roman, funktioniert die Geschichte um eine frustrierte Werbetexterin in New York wie eine Kurzgeschichte: Corrina wollte Schriftstellerin werden, muss nun aber Texte für Kinderparfums schreiben. Ohne Sinn und Ziel verläuft ihr oberflächlich betrachtet erfolgreiches Leben, bis sie merkt, dass sich etwas ändern muss. Eigentlich ist es nur ein Wochenende, von dem Cho erzählt, und Kurzgeschichten-typisch ist die Entwicklung der Protagonistin nicht auserzählt, sondern nur angedeutet. Dafür geht Cho in stimmungsvollen Szenen ins Detail, um den Leser in die Gefühlswelt seiner Haupfigur zu entführen (Egmont).
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