Der Krieg ist überall. Dankbar nehmen sich die Medien dem 100-Jährigen der europäischen „Urkatastrophe“ an. Tatsächlich scheint uns die gesellschaftliche Situation zu Beginn des Ersten Weltkriegs auf eigenartige Weise nahe gerückt zu sein. Das mag auch darin liegen, dass der erste Krieg nicht wie der zweite aus dem verbrecherischen Umfeld eines faschistischen Regimes hervorgegangen ist. Die Realität dieses Krieges, die sich niemand hat vorstellen können, brach in eine Welt ein, die seit 100 Jahren mehr oder weniger im Frieden gelebt hatte. Ein verlockender Ansatz, um Lebensgeschichten aus der Welt des Bürgertums und der sogenannten kleinen Leute zu erzählen. Wie erklärt man jungen Menschen, was damals geschah und welchen Unterschied es macht, Gewalt als coole Bewährungsprobe medial zu verklären, oder ihrer hässlichen Wirklichkeit gewahr zu werden?
„Zeit der großen Worte“ nennt Herbert Günther dann auch seinen Roman, der aus der Perspektive eines 14-Jährigen erzählt. Paul steht zwischen Vater und Bruder – die mit Begeisterung das Gewehr schultern – und den Frauen Ida, Louise und der Mutter, die sich nichts vormachen lassen und hinter die Fassade der Kriegseuphorie schauen. Günther gelingt es, die Welt zuhause – in die verwirrende Signale von der Front dringen - in einer faszinierenden Geschlossenheit darzustellen. Nachrichten und Propaganda müssen übersetzt und ausgelegt werden, damit sich die Daheimgebliebenen ein Bild machen können. Allerdings drückt sich durch Herbert Günthers Prosa die Struktur des historischen Romangenres immer einmal wieder durch.
Auch in Elisabeth Zöllers Roman „Der Krieg ist ein Menschenfresser“ sind es die Frauen, die überlegt, warmherzig und mit einem politischen Weitblick ausgestattet sind, der ungläubig staunen lässt. Zöller dringt tiefer in die politische Situation ein. Zwei junge Männer ziehen in den Krieg, eine junge Frau bleibt zurück. Ein Fotoapparat wird in einer braunen Tasche mitgeführt, und damit verbindet sich schon ein kritischer Blick auf das Frontgeschehen, das sich später zu einem Kriminalfall ausweitet. Zöller liefert zwar schon mit dem Romantitel eine vorschnelle Botschaft und ihre Protagonisten sprechen mitunter wie 20-Jährige unserer Tage, aber sie zeigt auch, dass die Fragen nach Wahrheit und Schuld viel komplizierter sind, als sie dargestellt wurden.
Die Verbindung von Wort und Bild, die bei Elisabeth Zöller als analytisches Instrument schon Teil der Romanhandlung ist, weitet sich bei Hermann Vinkes Band „Der Erste Weltkrieg“ zu einem Materialienbuch aus, das die Hintergründe der Ereignisse bis in die Zeit des Nationalsozialismus rekapituliert. Diesem Ansatz folgt Nikolaus Nützel mit atemberaubender Konsequenz in seinem Buch „Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg“. Der 24. August war jener Tag, der in Nützels Familie mit Bowle gefeiert wurde, weil der Großvater an diesem Tag sein Bein verlor. Bild für Bild verfolgen wir die Lebenslinie des Großvaters im Dialog mit dem Zeitgeschehen. Die Katastrophe reicht bis an den Kaffeetisch. Wie war das mit den Verwundeten, fragt Nützel, was ist ein Held, wie etabliert man Lügen als mediale Gemeinplätze und wer hat am Krieg verdient? Nützel erinnert daran, dass der heutige Reichtum von BMW oder Thyssen/Krupp auch auf den Gewinnen basiert, die während der vierjährigen Schlacht eingefahren wurden. Jubiläen können eben auch nützlich sein, wenn sie Anlass dazu bieten, Vergangenheit und Gegenwart neu in den Blick zu nehmen.
Herbert Günther: Zeit der großen Worte | Gerstenberg | 320 S. | 14,95 €
Elisabeth Zöller: Der Krieg ist ein Menschenfresser. | Hanser | 280 s. | 15,90 €
Hermann Vinke: Der Erste Weltkrieg. | Gerstenberg. | 64 S. | 14,95 €
Nikolaus Nützel: Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg. | arsEdition. | 144 S. | 14,99 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Kindheit zwischen Buchseiten
„Die kleinen Bücher der kleinen Brontës“ von Sara O’Leary und Briony May Smith – Vorlesung 05/24
Grenzen überwinden
„Frieda, Nikki und die Grenzkuh“ von Uticha Marmon – Vorlesung 04/24
Verblassende Wirklichkeit
Die Wuppertaler Literatur Biennale – Festival 04/24
Female (Comic-)Future
Comics mit widerspenstigen Frauenfiguren – ComicKultur 04/24
Erwachsen werden
„Paare: Eine Liebesgeschichte“ von Maggie Millner – Textwelten 04/24
Wortspielspaß und Sprachsensibilität
Rebecca Guggers und Simon Röthlisbergers „Der Wortschatz“ – Vorlesung 03/24
Lebensfreunde wiederfinden
„Ich mach dich froh!“ von Corrinne Averiss und Isabelle Follath – Vorlesung 03/24
Das alles ist uns ganz nah
„Spur und Abweg“ von Kurt Tallert – Textwelten 03/24
Spurensuche
Comics zwischen Wirklichkeit, Fantasie und Spektakel – ComicKultur 03/24
Wut ist gut
„Warum ich Feministin bin“ von Chimamanda Ngozi Adichie – Vorlesung 03/24
Unschuldig bis zum Beweis der Schuld
„Der war’s“ von Juli Zeh und Elisa Hoven – Vorlesung 02/24
Das Drama der Frau um die 50
„So wie du mich willst“ von Camille Laurens – Textwelten 02/24
Gertrude, Celeste und all die anderen
Progressive Frauen in Comics – ComicKultur 02/24
Sprachen der Liebe
„So sagt man: Ich liebe dich“ von Marilyn Singer und Alette Straathof – Vorlesung 02/24
Umgang mit Krebserkrankungen
„Wie ist das mit dem Krebs?“ von Sarah Herlofsen und Dagmar Geisler – Vorlesung 01/24
Schlummern unterm Schnee
Alex Morss’ und Sean Taylors „Winterschlaf – Vom Überwintern der Tiere“ – Vorlesung 01/24
Tanz in der Kunst
Sachbuch von Katharina de Andrade Ruiz – Literatur 01/24
Held:innen ohne Superkraft
Comics gegen Diktatur und Ungerechtigkeit – ComicKultur 01/24
Am Küchentisch
„Kleiner Vogel Glück“ von Martin Mandler – Textwelten 01/24
Federknäuel im Tannenbaum
„Warum Weihnachtswunder manchmal ganz klein sind“ von Erhard Dietl – Vorlesung 12/23
Glühender Zorn
„Die leeren Schränke“ von Annie Ernaux – Textwelten 12/23
Reichtum und Vielfalt
„Stärker als Wut“ von Stefanie Lohaus – Klartext 12/23
Die Umweltschutzuhr tickt
„Der Wald ohne Bäume“ von Jeanne Lohff – Vorlesung 12/23
Ernste Töne
Neue Comics von Sfar, Yelin und Paillard – ComicKultur 12/23
Unter der Oberfläche
„Verborgen“ von Cori Doerrfeld