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Auf der Suche nach dem Glück der richtigen Scheibe; am Mischpult der Elohim
Foto: Birgit Hupfeld

Den letzten Klon beißen auch Hunde nicht mehr

30. April 2015

Ein Film jenseits des Kinos. Michel Houellebecqs Roman „Die Möglichkeit einer Insel“ in Dortmund – Auftritt 05/15

Die Gespenster ernähren sich von den toten Seelen der Menschen. Laut gleitet der Eiserne nach oben. Eine rhythmische Sound-Mischung aus „2001 – Odyssee im Weltraum“-Klängen und schwellenden Fanfaren eröffnet im Dortmunder Schauspielhaus den Abend. Da ist das fiktive Laboratorium zwischen „Soylent Green“ und „Brave New World“, da ist die eine stille Welt nach der Apokalypse, posthuman, postlethal und doch irgendwie scheiße. Die Menschheit musste ja verschwinden, zugegeben, aber auch der unsterbliche Neomensch verliert im Jahre4014 langsam seine biologische Halbwertzeit, immer nur Klonen geht irgendwann auf den Keks, denn ein paar Haken hat die Nummer schon. Auch nach zwei Jahrtausenden Forschung, trotz Dolly (1996) und wegen Samuel H. Wood (2008). Bereits 2005 veröffentlichte Michel Houellebecq seinen Roman „Die Möglichkeit einer Insel“, der jetzt in Dortmund in einer Mixtur aus animierten Bildern und live gespielten Szenen von Nils Voges mit seinem Künstlerkollektiv sputnic auf eine Bühnenleinwand geworfen wurde, als allererster Live-Trickfilm der Geschichte.

Vier Schauspieler in schwarzen Kutten dienen als Adepten, legen Glasscheiben auf die Tricktische, sprechen die Texte und bewegen die Szenerie aus beleuchteten Faller-Häusern und Schienenwerk für hochtechnisierte Eisenbahnroboter, alles wird dann per Videosignal-Distribution auf die Leinwand gebracht. Nix verstanden? Kein Problem, der technische Aufwand ist wohl auch eher als visuelles Ablenkungsmanöver gedacht, er brückt die Wechsel, er macht das Schauen sehenswert und er spiegelt den technischen Aufwand, den echte Innovation jenseits der Philosophie eben so mit sich bringt, nicht nur in den futuristischen Welten, wohl auch am Theater. Dystopien sind eben lässig.

Daniel24, dessen genetischer Code erhalten geblieben ist, weil er irgendwie irgendwann als einstiger Comedian einer pseudoreligiösen Weltraum-Sekte nahe gekommen ist, steht gerade vor seiner Auflösung (Tod), muss seine Gedanken noch in den Computer (Große Schwester) speichern, damit sein nächster Klon ordentlich sein Gehirn rebooten kann. Wie gesagt, ein paar Probleme sind auch 4014 noch nicht gelöst und Houellebecq wäre nicht Houellebecq, wenn es dabei nicht auch um Sex in allen Variationen ginge. Aber auch ums Glück. Und so forschen die Klone explizit bei Daniel1, der im 20./21. Jahrhundert verzweifelt danach gesucht hat, der Liebe fand und sie wieder verlor, der eine Gefährtin besaß und einen Hund „Fox“. Der allein blieb immer treu und verstand die Depressionen seines Herrchens nie, und das war auch gut so. Dann kamen die Eduhim-Jünger nach Lanzarote und die Existenz des Neomenschen Daniel begann, wenn auch eher zufällig.

Dennoch, nun ist es mal wieder vorbei, fast endgültig vorbei. Schauspieler Andreas Beck bedient den Gong, das Strahlenschutztor wird geöffnet, Daniel25 wird zum Sandmännchen in der sandigen Ödnis. Hallo Daniel25. Mist, der treue, natürlich auch geklonte Hund Fox stirbt unmittelbar. Nils Voges lässt für den groben Animationsfilm seine Protagonisten schwitzen, die Werktätigen des Theaters im dauerkonzentrierten Apparat, optisch erinnern sie leicht an Kraftwerk, ihre Choreografie meist an Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“: Hier muss gedreht, geraucht, gerannt, getropft, gesprochen werden, Multitasking-Actors im besten Sinne, und sinnlich ist die Szenerie allemal – auch wegen der offenen Technik. Die Suche nach dem Glück fängt für Daniel25 nun an, Fox ist auch frisch geklont und sein Vorgänger hat ihm auch von Marie22 berichtet. Die hat ihr lebenserhaltendes Refugium bereits verlassen, für eine Vision von Lanzarote, einer Insel der Träume, der schlichten Möglichkeit von Glück. Sex ist ja o.k., aber es gibt keine Rückkehr. Die freundliche „Große Schwester“ löscht nämlich flugs die Ahnenfolge, das Refugium wird zerstört, der Klon ist auf der letzten heiligen Wallfahrt. Und er trifft natürlich auf die letzten echten Wesen der Postapokalypse. Und das sind keine Elohim, die fressen auch geklontes Fleisch. Als erstes muss Fox dran glauben – der blöde Köter. Gut so. Einem Replikanten wäre das natürlich nie passiert, doch der hätte bestimmt wieder nur von elektrischen Schafen geträumt.

„Die Möglichkeit einer Insel“ | R: Nils Voges, sputnic | So 10.5. 18 Uhr, Mi 20.5., Sa 30.5. 19.30 Uhr | Schauspielhaus Dortmund | 0231 502 72 22

PETER ORTMANN

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