Jeder Tag kann das Paradies bringen, jede Nacht die Sintflut. Doch wenn man das Wesen des Menschen beschreiben will, dann dürfte weder Paradies noch Sintflut eine korrekte Vision darstellen. Die Kleinen und Niedrigen sind die, deren Leben unbemerkt vorüberziehen, sie sind es, deren Leid das Leben der Großen erst ermöglicht, im Krieg zahlen sie sogar mit dem Tode oder Schrecklicherem. „Die Kleinen und Niedrigen“ heißt denn auch ein Triptychon-Text, der in der Wuppertaler Börse seine Uraufführung hatte, eine Hommage an zwei deutsche Schriftsteller des frühen 20. Jahrhundert, dazu ein neuer Text der Essener Autorin Anne Lepper, im letzten Jahr entstanden für den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens.
Es geht, wie sollte es 2014 auch anders sein, um den Krieg, nicht den einen, nicht die vergangenen, nicht die gegenwärtigen, sondern um Ursachen und Wirkung des immerwährenden. Regisseur Jakob Fiedler lässt dafür vier Schauspieler in schicker Uniform ohne Rangabzeichen auf schwarzen Kohlen durch die drei Texte paradieren.
Die Geschichte dreier Soldaten beginnt im Internat Benjamenta, einem Ort nach Robert Walsers Roman „Jakob von Gunten“, in dem er 1908 tagebuchartig die Erziehung junger Menschen zu Dienern des Staates beschreibt. Walser nannte ich selbst einen Entwicklungsroman einer verhinderten Entwicklung und so benehmen sich die Vier auf der quadratischen schwarzen Fläche auch, sie erwarten nichts, sie erträumen nichts. So werde ich sein. Selbst der Distelfink, den die Mutter mit glühenden Stricknadeln foltert, weil sie einer Zeitungsmeldung glaubt, dass blinde Vögel besser singen, erzeugt kaum Regung, nur die Handlung an sich scheint unerklärbar.
Die Losung „Wenig aber gründlich“ schafft die Grundlage für Befehlsempfänger im Feld. Eugen (Jakob Walser) und Grete (Julia Wolff), die vor dem Krieg geheiratet haben, finden sich danach nicht mehr zurecht, er ist nach einer genitalen Verwundung kein Mann mehr, sie betrügt ihn aus Verzweiflung mit seinem Freund Paul (Moritz Heidelbach) – und wird schwanger. Dennoch will Eugen weiter, der Arbeitslosigkeit entfliehen, Grete versorgen, die Kreatur Soldat verdingt sich auf dem Jahrmarkt für 80 Mark als Sensationsdarsteller. Vor den Augen des Publikums muss er als „Deutscher Held“ Ratten und Mäusen die Kehle durchbeißen. Fiedler zitiert hier angesichts der Vorlage das frühe expressionistische Kino, insbesondere der Schaubudenbesitzer ( Marco Wohlwend) zeigt Stummfilm-Choreografie. Kein Wunder, das expressionistische Drama „Hinkemann“ von Ernst Toller erschien 1923.
Dann entdecken Grete und Paul Eugen auf dem Rummel, sie überwältigt das Mitleid, verlässt Paul, doch Eugen will nicht mehr: Das hatte ich vergessen, dass die Welt so eingerichtet ist. Er geht – die Möbel gehören dir, doch Grete hat unsägliche Angst vor dem Alleinsein im Leben und bringt sich um. So sind die Menschen. Alles könnte anders sein, wenn sie wollten, doch alle Philosophie ist auf den Schlachtfeldern verraucht, da helfen auch keine Atomic Lyrics von Blondie: Uh huh, make me tonight, tonight, make it right.Uh huh, make me tonight, tonight, tonight.Ein gesungener Break „Let it snow“, die Handlung wechselt ins Feld und zu Anne Leppers Kurzstück: Oh ist das Morrissey. Kurz nach der Mobilmachung vertreiben sich die drei jungen Amerikaner die Zeit. Noch sind sie unsicher, was da kommen mag, Streufeuer oder Feldpost. Langeweile oder der Tod durch eine Übungsgranate. Wie schon in den zwei Akten zuvor inszeniert Jakob Fiedler wieder sehr choreografisch, mit mimischen und prägnanten Gebärden, dankenswerterweise mit wenig Witz, aber genauen Situations-Zeichnungen, eine gelungene Handschrift, die alle vier Schauspieler ausgezeichnet beherrschen und bewältigen.Time Marches On.Grete darf noch mal ran als wilde Schwester im Lazarett, zum Fiebermessen in blanken Hintern und wilder Orgie im Zelt – bis sie bewusstlos wird.
Dann breakt wieder Blondies Tonight und wir erfahren als Bogen noch Hintergründe aus dem Internat Benjamenta, in dem Uniformen getragen werden und die Gehirnwäsche selbst die Tochter des Vorstehers in den Selbstmord treibt, weil sie nie geliebt wurde. Doch unfrei fühlen sich die Kadetten nicht. Leben heißt dienen, der Spruch des Dalai Lama kommt in den Sinn, bekommt hier eine fast universelle Missdeutung. Hübsch ruhig alle, auch ohne Lehrer, mit strengem Blick in die Zukunft. Nichts zu begehren ist schön. Der Kreislauf beginnt von vorn. Die 1.800 Briketts werden auch das ertragen – als immer heiße Kohlen.
„Die Kleinen und Niedrigen“ | R: Jakob Fiedler | Wuppertaler Bühnen, Die Börse | Do 13.2. 19.30 Uhr | 0202 5 63 76 66
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Auf die Melancholie die Liebe
Theatergruppe Bamboo inszeniert frei nach Georg Büchner – Bühne 04/24
Teuflischer Plan
Senecas „Phaedra“ am Theater am Engelsgarten – Prolog 04/24
„Es geht nicht mehr um den romantischen Naturort“
Manuel Schmitt inszeniert „Erwartung / Der Wald“ an der Oper Wuppertal – Premiere 04/24
Von der Liebe enttäuscht
Premiere von Georg Friedrich Händels Oper „Alcina“ in Wuppertal – Auftritt 04/24
„Das Klügste ist, dass man die Polizei gar nicht sieht“
Anne Mulleners inszeniert „Falsch“ am Wuppertaler Theater am Engelsgarten – Premiere 03/24
„Wir hoffen, dass die Geschichte neu wahrgenommen wird“
Regisseurin Julia Burbach inszeniert „Alcina“ an der Oper Wuppertal – Premiere 02/24
„Der Roman lässt mich empathisch werden mit einer Mörderin“
Regisseur Bastian Kraft über „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – Premiere 01/24
„Wir haben uns absolut gegen den großen Stein entschieden“
Regisseurin Hannah Frauenrath über „norway.today“ am Theater am Engelsgarten – Premiere 12/23
Knechtschaft und Ungerechtigkeit
„Cinderella“ im Opernhaus Wuppertal – Oper 12/23
„Giftmord als Kammerspiel ist immer willkommen“
Regisseur Roland Riebeling über „Arsen und Spitzenhäubchen“ am Schauspiel Wuppertal – Premiere 11/23
„Es gibt nicht die eine Arie, die jeder kennt“
Martin Andersson über seine „Tristan und Isolde“-Inszenierung an der Oper Wuppertal – Premiere 10/23
Gerupfte Hoffnungsträger
Musiktheater der Gegenwart: Du Yuns „Angel’s Bone“ – Oper 09/23
„Es geht darum, was es heißt, politisch aktiv zu werden“
Jenke Nordalm inszeniert Thomas Köcks „Klimatrilogie“ im Theater am Engelsgarten – Premiere 09/23
Den Nerv der Zeit erkannt
Screen Dance Academy #3 in Wuppertal – Festival 08/23
„Zu Theater gehört Wagnis und Experiment“
Intendant Thomas Braus über die neue Saison am Schauspiel Wuppertal – Premiere 08/23
„Beim Kindertheater geht es um Kinder und es ist für Kinder“
Martina Wagner vom Haus der Jugend über das Sommertheater 2023 – Premiere 07/23
„Es geht nicht darum, etwas zu verstehen“
Wuppertals Opernintendant Berthold Schneider zur dritten Inszenierung von „Three Tales“ – Premiere 06/23
„Wir wollen eine Art Geisterbahn bauen“
Anne Frick über „Dream on – Stadt der Träume“ in Wuppertal – Premiere 05/23
„Thomas Mann tut es gut gekürzt zu werden“
Henri Hüster spricht über seine Inszenierung des Zauberbergs – Premiere 04/23
„Jede starke Komödie ist tragisch“
Maja Delinić über „Der Revisor“ am Schauspiel Wuppertal – Premiere 03/23
Angst
Beobachtung eines Kritikers im Kindertheater – Bühne 02/23
Manchmal geht die Sonne wieder auf
Azeret Koua inszeniert „Das Spiel ist aus“ im Autoscooter – Auftritt 02/23
Sie haben ein knallgelbes Gummiboot
„Vogelfrei“ am Theater am Engelsgarten – Auftritt 01/23
Krakatuk erst spät geknackt, Pirlipat dennoch gerettet
„Der Nussknacker“ am Opernhaus – Auftritt 12/22
Das bleibt, wenn die Masken fallen
„Die Wahrheiten“ am Theater am Engelsgarten – Auftritt 11/22