Die Granaten schlagen rechts und links neben Akim ein. Seine Eltern sucht er vergebens, Verletzte liegen auf der Straße, orientierungslos läuft er durch das Inferno, bis ihn eine Frau zu sich hinzieht. Während der Nacht hält sie ihn im Arm. Soldaten nehmen das Kind am Morgen gefangen, aber Akim kann in der folgenden Nacht flüchten. Er friert, eine alte Frau nimmt ihn mit zu den Erwachsenen, unter ihrer Führung erreicht er ein Flüchtlingslager. Dort kann er schlafen, aber Akim ist noch zu verstört, um mit den anderen Kindern zu spielen. Er denkt an seine Familie und an das, was er gesehen hat.
Kann man den Krieg und das Leid der Flüchtlinge im Bilderbuch darstellen? Die Belgierin Claude K. Dubois zeigt in „Akim rennt“, dass das möglich ist, ohne dass sie die Szenerie, in der die Kinder das Inferno erleben, verharmlosen müsste.
Das Buch ist in diesem Monat im Moritz Verlag erschienen. Es sieht aus, als sei es für die Katastrophe in Syrien gemacht worden. Aber Aktualität stellt sich nicht über Aktionismus her, sondern über ein Gespür für die Situation, in der sich Menschen befinden, und über den Blick für gesellschaftliche Zusammenhänge. Wenn man die Einsamkeit des Kindes sieht, das von einem Moment auf den anderen alles verliert und auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen ist, dann könnte man auf die Idee kommen, dieses Buch unserem Innenminister Hans-Peter Friedrich zu schenken. Der signalisierte jetzt, dass er 5.000 Flüchtlingen aus Syrien die Einreise nach Deutschland gestattet. Denn Friedrich fürchtet „unkontrollierbare Flüchtlingsströme“.
„Unkontrollierbare Flüchtlingsströme“? Gab es nicht gestern noch große Empörung über die Entscheidung des Assad-Regimes, gegen die Bevölkerung von Damaskus Giftgas einzusetzen? Ist man dann nicht verpflichtet, den Flüchtlingen Hilfe zu leisten und ihnen Obdach zu bieten? Muss man die Regierung in Berlin daran erinnern, dass auch Deutsche einmal zu Tausenden vor Bomben und Granaten geflohen sind, und dass auch sie keine Schmarotzer waren, sondern nichts als ihr Leben zu retten versuchten, nachdem sie ihre Heimat schon aufgegeben hatten?
Claude K. Dubois zeigt, worum es geht. Sie bleibt mit ihren Bleistiftzeichnungen konsequent in der Perspektive der Kinder. Die Soldaten im Buch sind keiner Nationalität zuzuordnen, politische Diskussionen erübrigen sich, die Belgierin hält vielmehr Kindern und Erwachsenen vor Augen, was Flüchten heißt. Eine unerhörte Dynamik weht durch dieses Buch, dass uns eine Vorstellung vom schutzlosen Getriebensein gibt. Dubois setzt nicht auf spekulative Schock-Effekte; es reicht, wenn man gesehen hat, wie das Kind friert, wie es verloren zwischen den Erwachsenen umherirrt, wie es eine kleine Puppe eines unbekannten Kindes findet, die es als letzten Halt mit sich herumschleppt.
Um dieses Buch zu verstehen, muss man kein Manifest gelesen haben. Es genügt hinzuschauen, die Lebendigkeit der Körper zu sehen und die Blicke zu beobachten, die der Geschichte ihre emotionale Wucht verleihen. Ein Buch für den Innenminister, aber auch eines, das in Kindergärten und Schulen gelesen werden sollte, und das seine Leser nicht trostlos zurücklässt. Akims Mutter findet letztlich ihr Kind. Ein versöhnliches Ende, wie es Kinder brauchen, weil sich so von der Katastrophe erzählen lässt. „Man kann mit Kindern über alles sprechen“, sagt Norman Junge, Illustrator und aktueller Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises, „es kommt nur darauf an, wie man es macht.“
Claude K. Dubois: „Akim rennt", Moritz Verlag, 96 S., 12,95 €
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