1983 erschien die Science Fiction-Gesellschaftsparabel „Schneekreuzer“ von Jacques Lob und Jean-Marc Rochette. In einer zukünftigen Eiszeit leben alle Menschen in einem endlos langen Zug, der ebenso endlos durch die Schneelandschaft fährt. Die Gesellschaft verteilt sich klassengerecht auf die Waggons. 17 Jahre später hat Rochette mit Benjamin Legrand zwei Fortsetzungen geschaffen, die im Zeichenstil weicher, im Grundton aber nicht versöhnlicher sind: Lüge und Verrat kennzeichnen das Leben im Zug. Der Koreaner Bong Joon-ho („The Host“) hat den Comic gerade bildgewaltig und starbesetzt verfilmt (Jacoby & Stuart). Daniel Clowes' „Der Todesstrahl“ erzählt von dem Außenseiter Andy, der entdeckt, dass er von seinem Vater die Fähigkeit geerbt hat, durch Nikotin Superkräfte zu erlangen. Zusammen mit seinem Freund Louie erkundet er die neuen Fähigkeiten, weiß aber nicht so recht, wie er damit umgehen soll. Die titelgebende Strahlenkanone führt schließlich zur Katastrophe. Clowes („Ghostworld“) erzählt wie gewohnt nüchtern vom deprimierend ziellosen Leben seines Protagonisten. Formal hingegen ist die Geschichte höchst kunstvoll erzählt, spielt mit Verweisen auf das Superheldengenre und die Popkulturgeschichte und wechselt die Erzählperspektive auf abenteuerliche, aber immer die Erzählung stützende Art. Großartig (Reprodukt).
„Ausgeliefert“ schildert eindrucksvoll die Nöte einer Heranwachsenden. Geneviève Castrée erzählt vom Chaos in ihrer Kindheit und Jugend zwischen ihren getrennt lebenden Eltern, von der emotionalen Erpressung durch die Mutter und der Aggression des Stiefvaters. Und schließlich schildert sie ihren langsamen Weg der Emanzipation von den Erwachsenen bis hin zu dem Augenblick, an dem sie selber erwachsen wird. Eine berührende, wenn auch etwas wirr erzählte Coming of Age-Geschichte. Guy Delisle ist vor allem bekannt durch seine Berichte aus „Pjöngjang“, „Shenzen“, „Jerusalem“ und „Birma“. Mit den „Louis“-Comics hat er dialogfreie Ausflüge in die Welt der Kinder gemacht. Nun legt er mit „Ratgeber für schlechte Väter“ einen Band mit kurzen Geschichten aus seinem Alltag als Vater vor, in denen er mit schwarzem Humor von seinen pädagogischen Unzulänglichkeiten erzählt. Ein schneller Wurf, der aber ziemlich komisch ist. Geneviève Castrée wäre mit einem solchen Vater sicher zufrieden gewesen (beide Reprodukt).
Abteilung Manga: Der gleichermaßen von japanischen wie europäischen Einflüssen geprägte Jiro Taniguchi ist bekannt für seinen betont langsamen, an Details und Genauigkeit interessierten Erzählstil. „Der Kartograph“ erzählt von Ino Tadataka, einem Kartographen des frühen 20. Jahrhunderts. Taniguchi begleitet den Wissenschaftler in seinem Alltag, erzählt von den kleinen Dingen, aber auch von großen Ereignissen wie einem gestrandeten Wal vor Tokio. Eine Kontemplation über Gesellschaft und Natur. Junji Itos „Uzumaki“ wurde im Jahr 2000 verfilmt. Erst jetzt erscheint der Horror-Manga auf Deutsch, und man kann beeindruckt feststellen, dass er in Sachen Grauen der nicht ganz überzeugenden Verfilmung in keiner Weise nachsteht. Die Geschichten um Menschen in einer Kleinstadt, die von der Form der Spirale besessen sind und daran fantasievoll zugrunde gehen, ist nicht umsonst erst ab 16 Jahren empfohlen. Alptraumhafte Wahnbilder entwachsen jeder Ecke des von Ito geschilderten japanischen Alltags um zwei Teenager. Zwei weitere Bände sollen folgen (beide Carlsen).
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