Gut, es gibt diese Typen, die halten ihre Leben immer für das einzig wahre, richtige, maßgebliche. Von morgens bis abends geht es nur um sie, ihre Belange, ihre Sichtweisen, ihre Empfindsam- und Empfindlichkeiten. Man könnte kotzen – bis der Moment eintritt, wo für einen selbst die Welt zur totalen Belanglosigkeit verkommt. „Verficktes Herz“ (rowohlt), in gebrochenem Zustand existiert nichts anderes mehr. Als ob der Geist auf Eis gelegt ist. Planlos schliddert er durch sein eigenes Labyrinth. Nichts macht mehr Sinn. Auf einmal passen, bei allem Bildungsaltruismus, Liebe und Verstand einfach nicht mehr zusammen. Oder wie es Nora Gantenbrink formuliert: „Herz und Hirn sind zwei nebeneinander existierende Organe. Wie ein altes Ehepaar leben sie vor sich hin und hören dem anderen nie zu.“ Dabei läge hier womöglich ein Lösungsansatz. Nur will das natürlich niemand hören; schon gar nicht in seinen Sturm- und Drangzeiten, in denen die Sehnsucht nach der großen Einheit, der ewigen Verschmelzung strebt.
Entsprechend wenig Gehör würden Nora Gartenbrinks Protagonistinnen den Untertönen in Edith Whartons grandioser Society-Satire schenken. Sind diese Tussen doch selber schuld, die im exklusiven Lifestyle der Upper Class das Glück des Lebens vermuten. Nur, um dann über ihre Yoga-, Fitness-, Wellness-, Beauty- und Shopping-Eskapaden in einen ewigen „Dämmerschlaf“ (Manesse) zu verfallen. Ihr Fehler, wenn auch ein überaus amüsanter, wenn sie ihre Freiheit nicht zu nutzen wissen. Außerdem geht's in dem Buch doch um die 20er Jahre. Ich will einen Typen, „der gut bumsen und gut singen kann“ (nochmal Gartenbrink). Well, schlecht wär's natürlich nicht, wenn er damit, also mit dem Singen, auch 'n bisschen was verdienen würde. Ein Leben lang von Flohmarkt zu Flohmarkt hetzen, um in möglichst individuellen Klamotten rumzulaufen, kann's ja auch nicht sein. Und irgendwann muss ich Lisa für die Yogastunden ja auch mal was bezahlen. Dann noch die ganze Kosmetik: Die gibt's nun mal nicht 2nd Hand. So'n bisschen Kohle braucht man halt, um authentisch sein zu können. Aber das Leben steht mir ja noch offen.
Das hat Jean Medford in James M. Cains bis vor kurzem noch verschollen geglaubten Roman „abserviert“ (MetroLit) auch gedacht, hat kurzerhand mit ihren Spießereltern gebrochen, um sich ins wahre Leben zu stürzen. „In echt“ hat sie aber plötzlich nicht nur ein Kind, sondern einen frustrierten, im Suff immer häufiger um sich schlagenden Mann am Hals – und nach dessen unglücklichem Tod seine psychopathische Schwester, die der bemitleidenswerten Witwe auch noch den Jungen wegnehmen will; weil eine gute Mutter nun mal nicht in einem halbseidenen Etablissement arbeitet. Schweren Herzens muss sich die hübsche Frau in der Blüte ihres Lebens gegen die Liebe, für einen betuchten Sexinvaliden entscheiden. Zu traurig; würde einem der Opferbericht des vermeintlichen Unschuldslamms mit seinen wohldosierten Eingeständnissen nicht zunehmend „zu denken geben“.
Ein Wahnsinn, wie sehr man sich seinen Träumen unterordnet, wie sehr man bereit ist, sich sein Leben von ihnen diktieren zu lassen. Fast noch starr-/stumpfsinniger erweist sich in dieser Hinsicht das „starke Geschlecht“. Oberstes Ziel von Kindesbeinen an: die berufliche Selbstverwirklichung in Rolle und Status quo. Erfolg macht süchtig; so wie bei Paul Bowman, dem das Glück beschieden zu sein scheint, aus den Schattenseiten des Zweiten Weltkriegs mehr oder minder direkt ins Rampenlicht der ehedem so glamourösen Welt der Literatur einzutauchen. Doch Glanz und Glorie, ist nicht „Alles, was ist“ (berlin), wie auch der siegestrunkene Lieutenant schließlich ernüchtert feststellen muss. Nichts mehr wert: die Eroberung der einst unnahbaren Schönheit, die er stolz seine Frau nannte, ehe sie sich gegenseitig, ohne mit der Wimper zu zucken, betrogen. Belanglos: all die Träume, nach denen wir gestrebt haben. Nur: Wer hat sie uns eigentlich diktiert? Und vor allem: Warum haben wir sie uns überstülpen lassen? Das fragt sich nicht erst James Salter, und trotzdem machen wir immer weiter mit bei dem Spiel …
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