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Der neu gestylte Hamlet auf blutigem Rachefeldzug quer durchs Internet
Foto: ©Edi Szekely

Shakespeare geschüttelt, nicht gerührt

25. September 2014

Der „Hamlet" am Dortmunder Schauspielhaus splattert genussvoll den ollen Shakespeare – Auftritt 10/14

Mehr Inhalt, weniger Kunst. Tatsächlich? Was streng nach dem Statement kommunaler Kulturpolitiker riecht, ist natürlich aus Shakespeares „Hamlet" II. Akt 2. Szene. Die Königin will damit Polonius' schwurbelige Erklärungsversuche für Hamlets Tollheit stoppen. In Kay Voges' „Hamlet"-Inszenierung am Dortmunder Schauspielhaus wird es zur Direktive einer neuen Dramaturgie der unerhörten Vorgänge am Schloss in Helsingør. Im kleinen Dauerfeuer der Technikfreaks mutiert der dänische Hof zum Überwachungsstaat mit zahlreichen Kameras in den Gemächern, mit eingespielten Clips von den Brennpunkten der Welt, aber auch mit der Ideologie einer Vermischung von Mensch und Maschine. Ophelia (Bettina Lieder) erinnert da doch schwer an die Replikantin Pris aus Ridley Scotts „Blade Runner", und Staatsrat Polonius (Michael Witte) macht sich im weißen Kittel als Dr. Frankenstein an der Leiche des Königs zu schaffen. Kein Wunder, dass der Cyborg Hamlet da weibliche Züge im Batman-Outfit (Eva Verena Müller) vorzieht, lieber mit riesigen Teddybären kuschelt und frei nach Shakespeare lieber mit Automatikwaffen auf Rache sinnt. Hamlet reloaded, frei nach Schnauze, oder doch liebevoll getwittert?

Voges und der Videokünstler Daniel Hengst haben die Königsmord-Saga jedenfalls gemeinsam gründlich aufgeschüttelt, aber nicht gerührt und dabei gnadenlos versucht, den zähen Staub der vier Jahrhunderte Theatergeschichte abzusaugen. Dass sich mancher bei der Premiere fast wie im Kino vorkam, hatte schon fast etwas anarchisches, denn lieb gewonnene „edle" Theaterreihen verkamen an diesem Abend zu kleinen Genickbrechern. Aber dass eine schicke Dame hinter mir die letzte Kugel in Hamlets Magazin dem Regisseur wünschte – cool, mehr kann man wohl mit zeitgenössischem Theater momentan nicht erreichen. Wenn auch alles mit ein bisschen zu viel Wirrwarr und aufgesetzter „Luschtichkeit" überhöht wurde, sehenswert bleibt diese visuelle Orgie allemal, auch wegen des implantierten roten Fadens zur Gegenwart. Dass einige seriöse Dortmunder Theatergänger zwischen Video-Art-Programming und Video Sound Art buchstäblich auf der Strecke blieben – und das meine ich hier nicht als Metapher, so what, Rosencrantz und Guildenstern wahlweise als Ernie und Bert oder Wum und Wendelin, das ist ja auch keine leichte Kost.

Aber das ist die ursächliche Story ja auch nicht, die endlos durchs kulturelle Gedächtnis der Welt geistert, an der sich Generationen abgearbeitet haben und immer noch nicht den Wahnsinn ergründeten, der Hamlet immer wieder in den menschlichen Untergang treibt und eben nicht in den politischen Untergrund, wo er eigentlich hingehört hätte, wollte er die Machenschaften am Hofe tatsächlich aufmischen. Der einfache Nenner: Claudius ermordet seinen Bruder, den König von Dänemark, heiratet dessen Frau und reißt den Thron an sich, war damals so ungewöhnlich nicht, dass ein Prinz gleich wahnsinnig werden musste. Klar, die Kuscheltiere gehörten da natürlich besser auf den Friedhof. In Dortmund stürzen sie sich lebensgroß auf die Bühne, analysieren ihr Dasein als eigentliche Schauspieler.

Allerdings, viel Slapstick und wenig Inhalt ergab noch nie Kunst an sich, aber lockert die wahren Replikanten im Publikum auf. Die dürfen dann am Schluss selbst zeigen, was sie in der virtuellen Welt gelernt haben. Echtzeit-Statements auf der Leinwand statt Applaus, willig winkende Zuschauer XXL beim Nachhauseweg, während die zwei TV-Wonneproppen auf der Bühne „Wir machen politisches Theater" skandieren. Gut dass Bertolt das nicht mehr miterleben musste, denn von seinen zuvor zitierten Grundsätzen ist nicht viel übrig geblieben. Das Radikalste an diesem Abend war die geforderte Kugel für den Regisseur aus der Walther PPK-Replika. Danach gab es sicher endlich Sektchen, geschüttelt, gerührt und vielleicht auch gespritzt. Das sich der reale Überwachungsstaat sicher darüber gefreut hat zu erfahren, wer von den Zuschauern im Theater twittern kann, nun ja, darüber denkt mal wieder keiner nach. Mehr Inhalt statt Kunst. Aha. Wer die Kommentare @theaterdo verfolgt hat, weiß dass weder das eine noch das andere heute eine leuchtende Zukunft hat.

„Hamlet" | R: Kay Voges | Mi 1.10., Fr 14.11. 19.30 Uhr | Theater Dortmund | 0231 50 27 222

PETER ORTMANN

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