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Die Gesellschaft ist das Problem, aber der Einzelne leidet
Foto: Annika Schäfer

„Transsexualität ist weder Mode noch Krankheit“

26. Juni 2014

Ben Anders über die Probleme derer, die in einem falschen Körper leben – Thema 07/14 Sexualität

engels: Herr Anders, wer sind Sie?
Ben Anders
: Ich bin aufgrund meiner empfundenen Identität ein Mann und lebe in einem weiblichen Körper, bin also ein Transmann. Um keine beruflichen Nachteile zu erfahren und auch um mich vor gewalttätigen Übergriffen zu schützen, verwende ich bei Interviews ein Pseudonym.

Hat sich seit dem European Song Contest in der Szene etwas verändert?
Ich habe das nicht intensiv verfolgt, weil mir die Musik, die auf dem ESC läuft, nicht gefällt. Manche Menschen, die transsexuell sind, finden, dass Travestiekünstler wie Conchita Wurst oder Olivia Jones, aber auch Transvestiten, die sich sehr auffällig kleiden, unserer Sache eher schaden. Die meisten Transsexuellen wollen einfach ein ganz normales Leben führen und sich auch ganz normal als Mann oder Frau kleiden. Sie wollen keine Paradiesvögel sein wie diese Medienstars.

Hat die Akzeptanz von Transsexuellen in den letzten Jahren zugenommen?
Das Thema findet mehr Beachtung in der Öffentlichkeit. Der fade Beigeschmack aber bleibt, dass dies aus Sensationsgier geschieht. Es wird so getan, als sei Transsexualität eine Modekrankheit. Aber Transsexualität ist weder Mode noch eine Krankheit. Transsexualität hat es in vielen anderen Kulturen bereits gegeben und ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst. Durch die teilweise einseitige mediale Darstellung des Themas ist es meiner Meinung nach eher zu einem Rückgang von Toleranz gekommen. Wir waren schon mal weiter.

Müssen Transsexuelle so sein wie sie sind oder wollen sie so sein?
Viele halten Transsexualität für einen selbstgestalteten Lebensentwurf. Für Travestiekünstler wird dies zutreffen. Das gilt aber nicht für einen Transsexuellen. Er hat sich das nicht ausgesucht und leidet in mehrfacher Hinsicht darunter. Man leidet unter seinem Körper aber auch an der gesellschaftlichen Stigmatisierung. Manche Transsexuelle wurden schon wegen ihres Soseins zusammengeschlagen. Aber es gibt auch ganz alltägliche Probleme. Gehe ich auf die Herren- oder Damentoilette? Wenn ich auf eine Damentoilette gehe, fühle ich mich dort nicht richtig. Wenn ich auf die Herrentoilette gehe, muss ich Angst vor Übergriffen haben. Eine Transfrau wiederum hat das Problem, beim Kleiderkauf von den Verkäuferinnen blöd angemacht zu werden, was für eine perverse Sau sie doch sei. Dabei kauft sie sich doch nur ein Kleid wie jede andere Frau auch.

Aber manche Männer tragen auch Frauenkleidung, um Lust zu erleben.
Natürlich gibt es ganz viele Abstufungen. Travestie ist eine kulturelle Kunstform. Transvestiten hingegen leben mit ihrer Kleidung auch ihre Lust aus. Crossdresser machen sich eher einen Spaß aus dem Rollentausch. Für die ist das ein Hobby. Transsexuelle wiederum sind einfach im falschen Körper. Wenn ich Herrenkleidung trage, empfinde ich keinen sexuellen Reiz sondern fühle mich einfach wohl darin. Und dann gibt es noch Transgender, die die Einteilung in Mann und Frau ablehnen. Es gibt sehr viele Facetten, die man nicht über einen Kamm scheren kann.

Was brauchen Sie?
Wir brauchen ganz viel Aufklärung. Mit dem Verein Transbekannt versuchen wir, mit Politikern ins Gespräch zu kommen. Wir wollen, dass langfristig das Transsexuellen-Gesetz überarbeitet wird. Transsexualität muss außerdem in vielen Ausbildungen thematisiert werden, bei angehenden Erzieherinnen und Erziehern, bei Lehrerinnen und Lehrern. Chefs müssen mehr über Transsexualität wissen.

Wie viele Transsexuelle gibt es?
Offizielle Zahlen gehen von 6.000 bis 7.000 Transsexuellen in ganz Deutschland aus. Das ist lächerlich. Nicht jeder Transsexuelle macht den Schritt, eine Namensänderung und Personenstandsänderung vor Gericht zu erwirken. Viele Transsexuelle trauen sich nicht an die Öffentlichkeit. Manche trauen sich auch nicht, sich selbst zuzugestehen, transsexuell zu sein. Vielen ist es auch nicht möglich, offen damit umzugehen, weil sie sonst ihren Job verlieren. Ich gehe davon aus, dass in einer Stadt wie Dortmund 5.000 bis 10.000 Transsexuelle leben.

Wie viele Menschen machen bei Transbekannt mit?
Wir haben ja eine Gruppe in Hagen und eine in Dortmund. Wir sind etwa 30 Aktive. Im Monat führen wir hundert bis 150 telefonische Beratungsgespräche. Die Anrufer kommen aber aus ganz Deutschland.

Transsexualität ist keine Krankheit?
Die Psychiatrie hat viele Jahrzehnte versucht, eine psychische Ursache zu finden. Es wurden Transsexuelle zwangseingewiesen und zwangstherapiert. Betroffene wurden am Hirn operiert. Dabei sind manche dieser Patienten gestorben. Elektroschocks wurden angewandt. Von christlicher Seite wurde gesagt: „Das kannst Du weg beten.“ Oder man hat Exorzismus betrieben, weil man glaubte, der Betroffene sei vom Teufel besessen.

Welche Ursachen hat Transsexualität wirklich?
Langsam versucht man umzudenken. In den letzten 14 Jahren etwa wurden mehrere medizinische Studien an Transsexuellen durchgeführt, die darauf schließen lassen, dass es sich um ein körperliches Phänomen handelt. So zeigen zum Beispiel zwei Studien von 2000 und 2010, dass sich „männliche“ von „weiblichen“ Hirnzellen unterscheiden. Tatsächlich haben Frauen, die mit einem männlichen Körper geboren wurden, trotzdem ein Hirn mit weiblichen Hirnzellen. Lapidar gesagt, hat eine Transfrau ein weiblich ausgeprägtes Gehirn, aber einen männlichen Körper darum. In anderen Studien wurde die DNA untersucht. Auch hier fand man Veränderungen bezüglich der Testosteron-Rezeptoren.

Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft?
Akzeptanz. Natürlich können Leute zunächst nichts für ihre Vorurteile. Die sind ihnen anerzogen worden. Aber wir können auch nichts dafür, transsexuell zu sein. Vorurteile kann man ändern. Wir Transsexuelle aber können unsere Identität nicht ändern.

INTERVIEW: LUTZ DEBUS

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