Joes Mutter muss noch einmal in ihr Büro wegen einer Akte. Dann verstreicht die Zeit und allmählich beginnen sich der 13-Jährige und sein Vater, ein örtlicher Richter, Sorgen zu machen. Als sie schon das Reservat durchstreifen – denn Louise Erdrichs Roman „Das Haus des Windes“ spielt 1988 in der Welt der nordamerikanischen Indianer – sehen sie die Mutter im Auto vorbeifahren. Seltsam abwesend wirkt sie, und dann sehen die beiden, dass sie schwer verletzt ist. Joes Mutter wurde vergewaltigt, wie auch eine zweite junge Frau, von der sich jede Spur verliert.
Für Vater und Sohn ist es ein schwerer Schlag, zu sehen, wie sich die Mutter in der Zeit ihrer äußerlichen Genesung verändert. Unzugänglich wird sie und beginnt innerlich abzudriften. Obwohl Joes Vater Stammesrichter ist, vermögen die Behörden die Tat nicht aufzuklären, zumal sie sich in einem rechtsfreien Gebiet zwischen den Bundesstaaten ereignet hat. So beschließt Joe den Täter selbst aufzuspüren. Noch heute werden den Untersuchungen von Amnesty International zufolge ein Drittel aller indigenen Frauen in den USA im Laufe ihres Lebens Opfer einer Vergewaltigung. 86 Prozent dieser Verbrechen werden von nicht-indigenen Männern begangen.
Ein wuchtiges Thema, das Louise Erdrich, die selbst Tochter einer Indianerin und eines Deutschamerikaners ist, in einen Roman gefasst hat, der nachtschwarze Passagen, aber auch Stellen enthält, in denen sich Humor und Erotik entfalten dürfen. Denn der Teenager, der über der Tragödie zum Mann wird, besitzt auch eine kindliche Seite. Da sind die gleichaltrigen Kumpels, mit denen er auf eine Spurensuche geht, die in einem Besäufnis endet, als man ein paar Sixpacks Bier im Wald findet, die eigentlich Beweismaterial darstellen. Und dann zieht sich durch den Roman die große Faszination für Tante Sonjas Brüste, die zunächst nur Objekte jugendlicher Faszination sind, an denen sich Joe aber letztlich beweisen muss.
Erdrich erhielt für „Das Haus des Windes“ den National Book Award, die höchste Auszeichnung, die einem Roman in den USA zuteilwerden kann. Er ist prall gefüllt mit Anekdoten und Stories einzelner Figuren bis hin zu mythischen Überlieferungen, in denen sich die Welt der Indianer und ihr Versuch spiegelt, in der Gesellschaft der Weißen klarzukommen. Erdrich zieht uns hinein in dieses kulturelle Universum, in dem Gewalt immer schon eine – aber nicht die einzige – Konstante war. Die Generationen gehen zärtlich miteinander um, zwischen Männern und Frauen fliegen die Fetzen und zugleich sind die gegenseitigen Gelüste ein Sujet. Was es mit keinem Satz gibt, sind Klagen über politische Benachteiligung. Das Verbrechen tritt mitunter in den Hintergrund und bildet dennoch die Grundierung, vor der sich die Familiengeschichte ereignet und der Rachegedanke sprießt. Ein Buch, das voller Überraschungen steckt und darüber hinaus mit einem plausiblen Finale seiner Kriminalgeschichte belohnt.
Louise Erdrich: Das Haus des Windes | Deutsch von Gesine Schröder | Aufbau Verlag | 388 S. | 19,99 €
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