Was mach' ich hier eigentlich?! Ich empfehle Monat für Monat eine Reihe an Büchern, die mir persönlich gefallen. Stelle sie in einen Kontext, der mir persönlich am Herzen liegt oder zumindest unter den Nägel brennt. Nix mit literaturwissenschaftlichen Wertmaßstäben. Keine Theorie, keine Analyse. Alles höllisch subjektiv. Das kann man mir natürlich vorwerfen. Aber warum sollte ich den wenigen Platz mit dem Verriss eines einzelnen Werks, das mir nichts sagt, oder einer vergeistigten Lobpreisung eines speziellen Autors vergeuden? Ist und bleibt doch genauso subjektiv. Literaturwissenschaftliche Theorien gibt es wie Religionen. Was zählt, ist aufm Platz, wie man bei den Fußballern sagt. Der Platz ist, was um mich beziehungsweise den Autor herum abgeht. Was zählt, ist dessen Relevanz – und ob es den Punkt trifft, meinen Punkt, meinen Standpunkt. Insofern kann ich Enno Stahls foucaultesken „Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft.“ [Verbrecher] voll unterschreiben:
»Kunst muss für etwas eintreten: für eine Sichtweise, für ihre Sichtweise, und ihren Standpunkt. Wie Peter Hacks es formuliert: ›Gegenstand der Kunst ist die Wirklichkeit, erfahren durch eine Haltung.‹«
Was ich beanstanden kann, ist ebendiese. Und die erzähltechnische Wirkung. Den Anspruch auf Allgemeingültigkeit überlass' ich gern' dem Feuilleton. Es mag ja sein, dass es Mary Miller in ihrem Debütroman „Süßer König Jesus“ [MetroLit] gelingt, die Sichtweisen, Selbstzweifel und Sinnfragen ihrer 14-jährigen Protagonisten überzeugend abzubilden, während diese mit ihrer heimlich schwangeren Schwester und ihren Eltern auf „Entrückungstour“ die USA durchquert. Dabei bleibt's aber natur- bzw. altersbedingt auch: pubertär angedacht, possierlich, aber eben ohne Haltung, (emotionale) Tragweite.
Ähnlich könnte man auch bei Frank Göhres Noir-Romanen „Zappas letzter Hit“ und „St. Pauli Nacht“ sowie -Erzählungen „Rentner in Rot“, „Der letzte Freier“ und „Es war einmal St. Pauli“ urteilen. Zu Göhres siebzigsten Geburtstag erscheinen die Werke vereint in dem Sammelband „Geile Meile“ [Pendragon]. Doch der Kiez ist nichts anderes als ein Abbild der sozialen Realität: Die unermessliche Gier nach Macht, projiziert auf Geld und Sex, lässt jegliche Hoffnung auf Recht und Gerechtigkeit fallen. Da bedarf die wertende Haltung des Autors keiner expliziten Äußerung mehr. Der Frevel wird in der Ausweglosigkeit seiner Protagonisten offenbar.
Mit ganz anderer Klinge zog hingegen vor beinahe 200 Jahren das grandiose Lästermaul William Makepeace Thackeray zu Felde. ‚Seine‘ „Memoiren des Barry Lyndon“ [Manesse] sind ironisch-aberwitziges Feuerwerk und abgrundtief sarkastische Schmähschrift zugleich. Schon allein die gnadenlos überzeichnete Person des notorischen Hochstaplers Redmond Barry ist in ihrer manischen Selbstverherrlichung eine traurig-komische Groteske: Status quo, Rolle, Position – in seinem immerwährenden Geltungsdrang macht der Mensch bei der Manipulation nicht mal vor sich selber halt.
Nahezu seelenverwandt erscheint da – schon allein von Berufs wegen – Enno Stahls „Winkler, Werber“ [Verbrecher]. Frei nach dem Motto „Gebt den Dumpfbacken, was sie glauben zu brauchen – und mir das Beste!“ pflügt er als „Texthure“ durch den von narkotisierenden Konsumvisionen bestimmten Alltag. Zwischen Raucherhustenanfällen und Feinkostträumen durchzucken in unaufhörlichem Stakkato kleine und kleinste Gedankenblitze seine Hirnwindungen, keiner zu Ende gedacht, geschuldet einer rasenden Wirklichkeit, aus der es keine Flucht zu geben scheint, sondern immer nur Arrangement. So entwickelt sich ein Monolog wie ein Inferno: böse wie die Pest ob der tragischen Unfähigkeit Winklers, sich von seinen Prävalenzen zu lösen. Wie gut, dass man als Leser zwischendurch mal Luft holen, sich mit seiner eigenen Wirklichkeit konfrontieren, sein persönliches Schaffen und Sein reflektieren kann: Bei solchen Büchern weiß ich, warum ich tu, was ich tu.
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