„lost moments“ steht dreifach untereinander auf dem Gemälde, das Johannes Wohnseifers Ausstellung den Titel gab. Die Buchstabenfolge „men“ in moments hebt sich einmal in Schwarz, einmal in Weiß von der silbrigen Schrift ab, in der unteren Zeile ist sie mit schlammigem Ockerbraun überpinselt. „Black men, white men, no men“ bietet ein Wortspiel, das vom Vergehen der Zeit direkt umschwenkt auf die Auslöschung der Menschheit – Tiefsinn, Unsinn und Konzeptmalerei zugleich.
Überraschende Wendungen, assoziative Verknüpfungen sowie der Einsatz von Materialien und Techniken, die oft in seltsamem Kontrast zu Motiv und Werktitel stehen – dieses Konzept verfolgt der Kölner Künstler (* 1967), der an der Kunsthochschule für Medien Malerei und Skulptur lehrt. Neben klassischen Genres arbeitet Wohnseifer auch mit digitaler und industrieller Hilfe und komponiert Bild-, Text- und Objektcollagen aus Fundstücken aus den Medien und dem Alltag. Sein Thema ist der jeweilige Zeitgeist; er konserviert, transformiert und würzt mit Ironie. Mit mehrschichtiger Symbolik und augenzwinkerndem Zeitbezug kann Wohnseifer seit rund 25 Jahren den Wuppertaler Kunstsammler Martin Pycior begeistern. „Einer der wichtigsten Künstler meiner Sammlung“, sagt Pycior. Immer nah dran am Puls der Zeit lege er Fährten aus, die Assoziationsräume öffnen.
Etwa 30 Arbeiten aus seinem Fundus zeigt Pycior nun im Kunstverein, ergänzt durch Werke aus Wohnseifers Atelier. Konzipiert und arrangiert haben Sammler und Künstler die Präsentation gemeinsam. Eine Wand z. B. in Petersburger Hängung, um auf heutige Bilderfluten anzuspielen und neue Beziehungen zwischen den Werken herzustellen. Man muss sich, zugegeben, erst einsehen in diese Gedankenwelt und den Hebel finden.
Mit Buttons am Revers zeigte man einst Haltung. Wohnseifers großformatige Button-Paintings zeigen „crisis crisis …“ auf rosarotem Grund. Oder „Palais Schaumburg“ auf Orange, das hochherrschaftliche Bonner Schloss, in den 1970ern Bundeskanzleramt. Oder ist die gleichnamige Band gemeint?
Amateurhafte Elvis-Fotos („Voyager“) sind teils mit Goldfolie beklebt. Reminiszenzen ans Internet gibt es: Ellenlange zufallsgenerierte Passwörter, wirre Spam-Mails oder hitzige Livekommentare zu einer NFT-Auktion werden zu flächenfüllenden Bildmotiven. Verblichene Polaroids entpuppen sich als Farbmalereien. Und dann ist da noch das Porträtgemälde des „amerikanischen Talibans“ Lindh, bemalt mit Motivationsmarketing-Slogan in der Schrifttype Walt Disneys … Rätsel bleiben und werden zunehmen. Doch wo die Bildung versagt, hilft Humor. Auf dem Boden: bemalte Baustellen-Pylonen aus sauschwerem Alu-Guss. Ein amorpher schwarzer Klumpen auf einem Sockel ist die Zusammenballung aller 3D-Drucke eines Jahres aus einem Drucker. „Colourfield Desaster“ heißt ein mit schwarzer Farbe verunstalteter Ikea-Teppich im Bauhausstil. Aus billigen Baumarkt-Holzlatten soll nach Vorlagenskizze ein Designer-Sofa entstehen. Wohnseifer erzeugt absurde Verschränkungen und legt gegenläufige Spuren. Alles ein bisschen „drüber“, wie Sammler Pycior die Wohnseifers Arbeitsweise charakterisiert. Wie die Gegenwart.
Johannes Wohnseifer: lost moments | bis 30.9. | Neuer Kunstverein Wuppertal | 0202 295 40 76
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Vom Boden aus
Martin Schwenk im Neuen Kunstverein im Kolkmannhaus – kunst & gut 07/18
Mitten drin
Das Atelier- und Galerie-Kollektiv für intermediale Zusammenarbeit im Neuen Kunstverein – kunst & gut 01/17
Eine Nacht – neun Performances
Am 2. Oktober geht es bei der 4. Performance Nacht zu neun Kunstorten – Prolog 10/15
Geheimnis bei Licht
Christian Schreckenberger im Neuen Kunstverein – kunst & gut 03/14
Orte zum Verweilen
Lothar Götz stellt im Neuen Kunstverein und im Sparkassenforum aus – kunst & gut 10/13
Fläche im Raum
Heike Klussmann stellt im Neuen Kunstverein aus - Wupperkunst 07/12
Auf der Fläche und im Raum
Drei Ausstellungen zur zeitgenössischen Malerei – Kunst 04/12
Schöne Bilder
Christoph Dettmeier stellt im Neuen Kunstverein Wuppertal aus - Kunst 07/11
Stille Ereignisse
Ulrike Möschel stellt im Neuen Kunstverein Wuppertal aus - Wupperkunst 03/11
„Das kann einem einen kalten Schauer bringen“
Direktor Tayfun Belgin über die Gottfried Helnwein-Ausstellung im Osthaus Museum Hagen – Sammlung 04/24
Bodenständig dynamisch
Anthony Caro im Skulpturenpark Waldfrieden – kunst & gut 04/24
Vom Kleinsten und Größten
„Size matters“ im Kunstpalast Düsseldorf – kunst & gut 03/24
„Er hat sehr feinsinnige Arbeiten erschaffen“
Kunsthistorikerin Anna Storm über die Ausstellung zu Lothar Baumgarten im VdH-Museum – Interview 03/24
Unter unseren Füßen
Archäologie der Moderne im Ruhr Museum – kunst & gut 02/24
„Die Berührung impliziert eine Verbindung zum Objekt“
Generaldirektor Felix Krämer kuratiert „Tony Cragg: Please Touch!“ im Kunstpalast Düsseldorf – Interview 02/24
Unergründliche Dingwelt
Erinna König im Wuppertaler Von der Heydt-Museum – kunst & gut 01/24
„Abstrakte Kunst ist keine Reproduktion der Wirklichkeit“
Kuratorin Beate Eickhoff über „Nicht viel zu sehen“ im VdH-Museum – Interview 01/24
Licht-Spiegel-Maschinen
Mischa Kuball im Skulpturenpark Waldfrieden – kunst & gut 12/23
Großmeister im Dialog
Picasso und Beckmann im Von der Heydt-Museum – kunst & gut 11/23
In ganz neuem Licht
Mischa Kuball im Skulpturenpark Waldfrieden – Kunst 10/23
14 aus 51
Jubiläumausstellung im Skulpturenpark Waldfrieden – Kunst 09/23
„Picasso und Beckmann standen im Zentrum der Debatte über Malerei“
Direktor Roland Mönig über die neue Ausstellung im Von der Heydt-Museum – Sammlung 09/23
Clemens Weiss im Osthaus Museum
„Green Bridge. Skulpturen“ in Hagen – kunst & gut 08/23
Bella Figura
„Figur!“ im Skulpturenpark Waldfrieden – kunst & gut 07/23
Leben ins Museum
Neue Sammlungspräsentation des MO im Dortmunder U – kunst & gut 06/23