Ein überschätzter wie überflüssiger Ritus? Womöglich mutwillige Körperverletzung? Oder eben doch eine feierliche Zeremonie mit religiösem Anspruch und unverändert gültigem Stellenwert? „Wer die Beschneidung jüdischer Neugeborener ausschließlich als abzulehnende elterliche Verfügungs- und Entscheidungsgewalt interpretiert, muss sich fragen lassen, was mit einem Säugling passiert, wenn man keine Entscheidungen für ihn zu treffen bereit ist“, klagt Dr. Ulrike Schrader (52). Bei der aktuellen Diskussion bemängelt sie vor allem das häufige Fehlen von notwendigen historischen, kulturellen und religiösen bis hin zu anatomischen Kenntnissen rund um die Sitten und Gebräuche im Judentum. Daher hat die seit 1994 verantwortliche Leiterin der Begegnungsstätte Alte Synagoge im Stadtteil Elberfeld, einziges jüdisches Museum der Bergischen Region, ihre berufliche Hauptaufgabe für die jährlich rund 5.000 Besucher klar definiert: „Als außerschulischer Lernort für viele Schulklassen sowie besonderer Treffpunkt für interessierte Mitbürger ist unsere im April 2011 eröffnete Dauerausstellung auch dazu da, um die komplexen Zusammenhänge in der jüdischen Geschichte und Religion zu erklären und zu gewichten.“ Wer in der heutigen säkularen Welt nicht mehr vermöge, religiöse Argumentation nachzuvollziehen, könne natürlich ein „von Gott gegebenes und verbindliches Gesetz“ nicht akzeptieren – aber er könne es dann auch nicht verstehen.
Viele moderne Juden befolgen die meisten Regeln längst nicht mehr
Als Nicht-Jüdin kennt die promovierte Literaturwissenschaftlerin aus unzähligen Gesprächen mit jüdischen Freunden und Bekannten – vom Polen bis zum US-Amerikaner, vom Schwulen bis zum Anarcho – die oftmals gemischte Gefühlslage: „Manche Dinge gelten auch ihnen durchaus als widersinnig und überflüssig, so dass viele moderne Juden die meisten Regeln längst nicht mehr befolgen. Doch im Grunde ist jeder froh, wenn es in der Gemeinschaft noch andere jüdische Familien gibt, die dieses Erbe unbeirrt bewahren.“ Dass der reine Eingriff medizinisch ohnehin völlig unproblematisch erfolgt, ist für Frau Schrader nur ein Aspekt. „Viel entscheidender ist, dass bei der ganzen Debatte offensichtlich nicht klar ist, was das Kölner Landgerichtsurteil de facto bedeutet: dass jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich wäre – und diese Unfähigkeit, den größeren Bedeutungsrahmen zu ermessen, ist für mich ein armer Befund im selbsternannten Land der Dichter und Denker.“
Die vor kurzem juristisch beschlossene Straffreiheit zumindest in Berlin sei deshalb der erste Schritt in die richtige Richtung. Doch die Lehrbeauftragte an der Bergischen Universität glaubt an ein länger schwelendes Hin und Her: „Hier glaubt ein Volk über Jahrtausende hinweg an den tieferen Sinn dieser Zeremonie, und nie hat jemand Anstoß daran genommen. Diese jetzige überflüssige Diskussion legt ganz offensichtlich auch manifeste antijüdische Ressentiments frei, die auf keinen Fall zu tolerieren sind.“ Wie humorvoll Juden selbst – wieder einmal – mit solchen Leiderfahrungen umgehen, verdeutlicht ein neu aufgekommener Witz: „Was sagt ein jüdischer Mann dazu? Als ich an meinem 8. Lebenstag beschnitten wurde, war ich schwer traumatisiert: Ein Jahr konnte ich nicht gehen und zwei Jahre nicht sprechen!“
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