Andrea Camilleris neuer Roman trägt den Titel „Mein Ein und Alles“. Für den gebürtigen Sizilianer, der seit Jahrzehnten in Rom lebt, können damit eigentlich nur die Frauen gemeint sind. Stehen sie doch im Zentrum seiner Bücher, die sich nicht nur in Italien regelmäßig in Bestseller verwandeln. Das neue Buch enthält auf der letzten Seite eine Art Materialliste, mit der Camilleri Rechenschaft über seine Inspiration ablegt. Neben William Faulkners „Freistatt“ – dem vielleicht beklemmendsten Roman der Kriminalliteratur – hat sich der 89-Jährige im Gefängnis Geschichten erzählen lassen, auch ein Mordfall aus der Zeitung spielt eine Rolle. Aber vor allem haben ihm die Frauen mit ihren ausgeplauderten Geheimnissen Eintritt in das weibliche Universum gewährt.
Sie alleine füllen das Sujet dieses Romans, der sich um Arianna, eine Provinzschönheit dreht, in deren Charakter die Launen, Nöte, Lüste und Talente verschmolzen sind, die gewöhnlich mit einer weiblichen Biographie in Verbindung gebracht werden. Kolportage verachtet Andrea Camilleri eben nicht, und man verzeiht sie ihm gerne, weil er das Triviale mit scharf beobachteten Situationen, einer fein ausgestreuten Prise Humor und einem sicheren Einsatz erotischer Effekte zu versehen weiß. Stück für Stück erfahren wir, wie Arianna zu der stolzen Frau geworden ist, die Giulio geheiratet hat. Als Waise ist sie bei der strengen Großmutter aufgewachsen, der Onkel konnte nicht die Finger von ihr lassen. Der Missbrauch mischt sich mit Begehren, aber Arianna lernt, die Männer gezielt zu erledigen. Als sie alles verloren hat, lernt sie Giulio kennen, er ist reich und verliebt sich rückhaltlos in sie. Allerdings ist er aufgrund eines Unfalls impotent. Pragmatisch geht Giulio mit der Situation um, Arianna darf sich jede Woche einen Mann aussuchen, mit dem sie schlafen möchte. Der Haushalt des Begehrens gerät jedoch durcheinander, als sich einer der jungen Männer anhaltend in Arianna verknallt.
Ein Roman, der in kurzen Sätzen vorangetrieben wird, seine Heldin scheint immer ein wenig außer Atem zu sein. Das Tempo hat Camilleri seinem Vorbild William Faulkner nachempfunden. Es ist aber nicht so sehr die Spannung, die der Geschichte ihre delikate Würze verleiht. Die Lust will gestillt werden, und da kann schon einmal ein anmaßender Liebhaber auf der Strecke bleiben. Camilleri genießt es, seine Heldin zu beobachten, die auch eine kindliche, unausgereifte Seite in sich trägt. Ariannas psychische Labilität birgt die eigentlichen Gefahrenpotanziale der Geschichte. Vom ersten Kaffee am Morgen bis zu den gierigen Szenen des Abends entwirft Camilleri eine Frau, die nur ihren Gelüsten folgt. Der Italiener amüsiert sich und seine Leser mit diesem amoralischen Geschöpf, das keineswegs auf die Bilder der Madonnen und Huren zugeschnitten ist, wie sie seine Landsleute so gerne bemühen. Italienisch ist hier vielmehr die Lässigkeit, mit der prickelnd ein weiblicher Sommer in Rom beschrieben wird, der den Männern freilich schlecht bekommt.
Andrea Camilleri: Mein Ein und Alles | Deutsch von Annette Kopetzki | Kindler, 160 S. | 19,95 €
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