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Der spanische Autor Chirbes
Foto: Volker Hinz

Wer profitiert von den Verbrechen?

05. Mai 2014

Rafael Chirbes liefert mit „Am Ufer“ ein fulminantes Alterswerk – Krimi 05/15

Dieser Roman ist kein Kriminalroman. Und dennoch, auch ohne Kommissar gibt es gleich zu Beginn eine Leiche und Verbrechen jede Menge. Rafael Chirbes legt mit „Am Ufer“ in mehrfachem Sinne eine Abrechnung vor. Dieses wuchtige Opus liest sich nicht nur wie die Summe seines jahrzehntelangen Schaffens, sondern mit dem Blick auf Spaniens Krise scheint sich zudem für Chirbes historisch der Kreis zum Ende der Franco-Zeit zu schließen, das in die boomenden Siebziger Jahre fiel. An einen schicksalhaften Punkt ist das Land mit einer Wirtschaftspolitik gelangt, die den Wert menschlicher Arbeit zerstört und die Menschen ins Unglück stürzt.

In einem Sumpf beginnt der Roman, einem Areal, das von der Industrie vergessen und der Natur struppig überwuchert ist. Hier schießt auch der Erzählstrom wild ins Kraut. Von Esteban, dem ehemaligen Besitzer einer prosperierenden Schreinerei, geht er aus und führt zu einer ganzen Gruppe von Menschen, deren Schicksale sich zu einem Panorama unserer Gegenwart verschränken.

Esteban hat sich bei einem Immobilienhai verspekuliert, sein Unternehmen ist pleite und seine Angestellten – die zum Teil schon seit Jahrzehnten für seine Familie arbeiten – stehen plötzlich auf der Straße. Rafael Chirbes zeigt mit seinem Werk seit vielen Jahren, wie aktuell die Literatur sein kann, wie hellsichtig sie gesellschaftliche Entwicklungen beschreibt, noch bevor die hysterischen Nachrichtenmedien die jeweiligen Katastrophen in die Welt hinausposaunen. Er liefert die Analysen und Hintergründe, indem er die Geschichten hinter den grellen Ereignissen für uns aufzeichnet. Wie die Vergangenheit des Bürgerkriegs eine Gesellschaft über Generationen im Innersten prägt, das hat er mit Romanen wie „Der Schuss des Jägers“ oder „Der lange Marsch“ gezeigt. In seinem letzten Roman „Krematorium“ entwirft Chirbes das Szenario der fetten Jahre mit dem Blick auf einen Bauunternehmer, dessen Gewinn sich proportional zu den Bauruinen entwickelt, die jeder kennt, der einmal in Spanien war.

Nun fällt mit „Am Ufer“ der Blick auf die verbrannte Erde, die das Ergebnis jener verbrecherischen Gier ist, die ein Wirtschaftssystem hinterlässt, das nicht mehr auf Gewinn ausgerichtet ist, sondern sich selbstständig gemacht hat und wie ein Rudel wilder Hunde nur noch maßlose Ausbeutung betreibt. Ein atemberaubendes Fresko zeichnet Chirbes, weil er nah an seine Figuren heranrückt; kein Detail wird ausgelassen. Er zeigt uns, welche Qualität das Koks hat, das die Neureichen schnupfen, was bei den Armen und den Reichen gegessen wird, was die Frauen unter ihren Kleidern tragen, was sie trinken, wie die Männer jagen, was es heißt, kein Geld mehr für die Miete zu haben, nichts zu essen für die Kinder, wie die Alten leben und wie es den Altenpflegerinnen ergeht. Am Ende sind es die kleinen Gesten der Liebe, die wir wieder zu schätzen lernen. So entsteht ein Buch, das irgendwann keine Geschichte mehr ist, sondern zu einem Zustand wird, traurig und ekelhaft und überbordend und lustvoll. Das Buch wird zu einer Stimme, die einem auch nach seiner Lektüre im Kopf bleibt und die Alltagswelt in ein anderes Licht taucht. Ein Triumph des Erzählens, dabei immer präzise, und bis zuletzt hält uns die Stimme dazu an, nie darauf zu verzichten, die eine wichtige Frage zu stellen: Wer profitiert von den Verbrechen?

Rafael Chirbes: Am Ufer. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Verlag Antje Kunstmann, 430 S., 24,95 €

Thomas Linden

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