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Friedrich Glauser: Die Kriminalromane mit Wachtmeister Studer
© Diogenes Verlag

Sympathischer Bärbeiß

03. Juni 2014

Friedrich Glausers Kriminalromane in einem Band – Krimi 06/14

An einem kalten, dunstigen Novembertag findet man auf einem Friedhof die Leiche eines Mannes, der mit einem glatten Herzschuss getötet wurde. Ein Toter auf einem Friedhof: Nicht besonders originell, könnte man meinen. Aber in einem kleinen Dorf im Berner Oberland gibt es nicht viele Plätze, auf denen man sich in der Öffentlichkeit sehen lassen kann. Erstaunlich ist nur, dass der Wachtmeister Studer – ein ebenso bärbeißiger wie begabter Kriminalist, dessen Karriere einen derben Knick erlitten hat, nachdem er bei der Stadtpolizei degradiert wurde – den Mann kennt. Schon als er von seinem Motorrad steigt, beginnt die Erinnerung in ihm zu arbeiten. Vor Monaten war ihm der Mann in einem Hotelzimmer des nahen Gasthauses begegnet und hatte ihm prophezeit, dass man ihn ermorden würde.

Gleich mit den ersten Bildern des Romans „Der Chinese“ ist man in der Welt des Wachtmeister Studer, dessen Abenteuer Friedrich Glauser in fünf Romanen entfaltete, die der Diogenes Verlag jetzt noch einmal in einem Dünndruckband auf 1200 Seiten vereinigt. Friedrich Glauser, der Morphinist und notorische Outcast, der in den dreißiger Jahren in Genf in eine Irrenanstalt gesperrt wurde, erlebte als Autor ungezählte Auferstehungen. Die Romane – einstmals als Schundliteratur abgekanzelt – gehören heute in der Schweiz zum Kanon der Schullektüre. Im letzten Monat noch inszenierte Sebastian Nübling im Schauspielhaus Zürich „Matto regiert“, einen beklemmenden Roman, der die Innenwelt der Psychiatrie im Detail beschreibt.

Glauser wollte schreiben wie Georges Simenon. Dessen Kommissar Maigret war schon in den Dreißigern ein europaweiter Krimistar. Aber den Studer unterscheidet von seinem pfeiferauchenden Kollegen aus Paris nicht nur die Brissago, jener Zigarrenstumpen, der dem großen Mann aus dem Mundwinkel hängt. Studer ist melancholischer, weniger zielgerichtet. Auch wenn die Plots von „Matto regiert“ oder „Krock & Co“ Überraschungen in sich bergen, so sind die Romane doch nicht auf sie angelegt. Es sind die Geschehnisse auf dem Weg dorthin, die Glausers Prosa ihre besondere Fülle geben. Studer besitzt ein Sensorium für die Welt der kleinen Leute, aus deren Untersicht er die Realität betrachten kann, ohne sich den Blick von Sozialromantik trüben zu lassen. Sie sind, wie etwa der Gehilfe einer Gartenbauschule im „Chinesen“ schon geübt darin, innerhalb des großen Gesellschaftsspiels die Verlierer zu sein. Studer tritt dem Gehilfen zur Seite, bevor er in die Schusslinie der großen Tiere gerät.

Man folgt ihm bei seinen Ermittlungen nur zu gerne, weil Glauser ein Genie der atmosphärischen Beschreibung ist. Wenn Studer eine Gastwirtschaft im Winter betritt, dann brennen sich die Details von Licht, Temperatur und Atmosphäre nach wenigen Sätzen so tief ein, dass man Filmbilder vor Augen zu haben glaubt. Das ist große Literatur, die in ihrer dichten Konsistenz an die Erzähler des 19. Jahrhunderts wie Adalbert Stifter oder Gottfried Keller erinnert. Nur dass Glauser heute die stickige Enge einer Gesellschaft der Anständigen beschreibt, deren Macht in einem Verwaltungsapparat zum Ausdruck kommt, der den verdächtigen Außenseiter jederzeit zu zermalmen bereit ist. So besitzt das verlockende Bier auf dem Schuber des Buches, das der Verlag aus einem Foto von Willi Eidenbenz extrahierte, durchaus doppelte Bedeutung als Ikone satter Bürgerlichkeit und eines verlockenden Genusses, der Glausers Prosa unvergesslich macht.

Friedrich Glauser: Die Kriminalromane mit Wachtmeister Studer. Diogenes Verlag, 1230 S., 28,90 €

Thomas Linden

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