Krimis muss man sich gegenseitig empfehlen. In keinem Genre der Literatur ist man so auf die Leseerfahrung der Mitmenschen angewiesen wie bei der Spannungsliteratur. Auf diese Weise entstehen dann auch die Empfehlungslisten und die All Time Favorites, in deren Reihen sich kaum Bewegung einschleicht. Aber sind die Klassiker wirklich noch so gut, wie wir sie einmal vor urdenklichen Zeiten fanden? Kann man Raymond Chandlers „Der lange Abschied“ heute noch ohne Gähnen lesen?
Diogenes hat den Roman gemeinsam mit Chandlers berühmtesten Buch „Der große Schlaf“ jetzt noch einmal in einer praktischen, stoffbezogenen Ausgabe vorgelegt, die sich etwas aufgebrezelt „Taschenbuch Deluxe“ nennt, ohne den Roman freilich neu zu übersetzen. Aber wer einmal etwas richtig macht, der muss es später nicht besser machen. Hans Wollschläger übersetzte den Roman 1975 und sein Text ist von einer solch genialischen Ironie, dass er beim Wiederlesen fast noch besser anmutet, als zu jenen Zeiten, in denen man hierzulande Chandler erst so richtig zu entdecken begann. Die Frechheit, mit der Philip Marlowe dem amerikanischen Westküsten-Establishment seine Wahrheiten ins Gesicht raunzt, wirkt noch ebenso frisch wie 1953, als der Roman entstand. Chandlers Gesellschaftskritik und die vor Komik und analytischer Scharfe nur so blitzende Sprache von Hans Wollschläger bleiben ein Highlight der Literatur des 20. Jahrhunderts.
Das kann man von Ross Macdonald inzwischen nicht mehr behaupten. Seinen Roman „Der blaue Hammer“ nennt Donna Leon in ihrem Vorwort zur neuen, elegant gestalteten Paperback-Ausgabe ein „Meisterwerk“. Diogenes ließ den Roman von Karsten Singelmann neu übersetzen. Eine ausgezeichnete Leistung, denn Singelmann wählt einen klaren, zurückgenommenen Ton für jene Odyssee, die Privatdetektiv Lew Archer durch die Kunst-Society von Santa Barbara auf der mörderischen Suche nach einem gestohlenen Bild führt. Macdonald gelingt eine grandiose Eröffnungssequenz und Singelmanns unverstellte Übersetzung gibt den Blick frei auf eine Welt der siebziger Jahre, in der die Rechnungen aus den fünfziger Jahren bezahlt werden mussten. Wer ist reich geworden an der Kunst, und wer hat sich dabei die Finger schmutzig gemacht? Lew Archer legt die Tragik mancher Schicksale bloß, die von Erfolglosigkeit gezeichnet sind, während sich andere im falschen Ruhm sonnen. Der Roman enthält durch alle Generationen interessante Frauenporträts. Aber auch wenn man das Aroma jener Epoche noch einmal angenehm schmecken darf, so wirkt der unerschütterliche Fleiß, mit dem Macdonald seinen Detektiv immer zwei Schritte hinter den Ereignissen schnüffeln lässt, auf die Dauer ermüdend und stilistisch stereotyp.
Ganz anders ist das bei John le Carré, dessen größter Erfolg „Der Spion, der aus der Kälte kam“ bei Ullstein eine Neuübersetzung von Sabine Roth erfuhr, die den Roman dezent in die Gegenwart holt und zugleich ein wunderbares Gespür für die englische Welt der frühen sechziger Jahre zeigt. Ein Roman, der vom Kalten Krieg, dem komministischen Deutschland und der Mauer erzählt. Das alles haben wir doch hinter uns gelassen, wie soll ein solches Sujet die Zeiten überleben können? Indem es seine Atmosphäre ausspielt, die psychologischen Strukturen von Menschen aufdeckt, die in die Fänge der politischen Macht geraten und eine unglaublich gut gebaute Story bietet, die einen buchstäblich bis zum letzten Satz gefangen nimmt. Besondere Aktualität erhält die Neuausgabe zudem durch den Fall Snowden, der genau jene Geheimdienst-Mentalität erkennen lässt, die John le Carré mit raffinierter Detailgenauigkeit in ihren Strukturen schon 1963 beschrieb. Manche Klassiker bleiben eben auch nach 50 Jahren genauso unerschütterlich gut, wie am ersten Tag.
Raymond Chandler: Der lange Abschied. Deutsch von Hans Wollschläger. Diogenes Verlag, 686 S., 12,90 €
Ross Macdonald: Der blaue Hammer. Deutsch von Karsten Singelmann, Diogenes Verlag, 432 S., 14,90 €
John le Carré: Der Spion, der au sder Kälte kam. Deutsch von Sabine Roth, Ullstein Verlag, 280 S., 18,- €
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