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Alles subjektiv, oder was?!

27. Juni 2013

Wortwahl 07/13

Okay, okay, objektiv betrachtet ist Kyle Nevin ein ausgemachter Hundsfott: tollwütig, niederträchtig, gewissenlos. Was man ihm aber nicht vorwerfen kann, ist schmierige Hinterfotzigkeit. Wenn es für Dave Zeltsermans „Paria“ (pulp master) etwas gibt, was er auf den Tod nicht ausstehen kann, dann: linke Ratten. So wie Red Mahoney, dessen rechte Hand er einst war, und der ihn dafür zum Dank ans Messer geliefert hat, um seine eigene Haut zu retten. Acht Jahre hat Nevin dafür gebrummt. Ohne ein Sterbenswörtchen zu sagen. Um sich nach seiner Entlassung frei von irgendwelchen Auflagen ganz der hasserfüllten Jagd auf seinen ehemaligen Boss widmen zu können. Vor nichts und niemandem zurückschreckend. Auf eine Leiche mehr oder weniger kommt's in seinem Leben eh nicht an. Verstört, aber gebannt folgt man seinem Weg, bis man fast so was wie Sympathie für den Teufel hegt.

Letztlich ist doch alles eine Frage des persönlichen Blickwinkels. Nicht nur optisch, sondern auch wie es im eigenen Kopf ankommt. Hier ist und bleibt alles subjektiv. Die allseits grassierende Verherrlichung der Individualität ist doch nichts anderes als eine Verniedlichung der Tatsache, dass die Menschen kommunikationspsychologisch gar nicht auf einen Nenner zu bringen sind. Umso alarmierender, wenn die Welt bisweilen doch im Gleichklang tickt. Beim Blättern durch das von Peter Russel und Senta Slingerland zum Cannes Lions International Festival of Creativity zusammengestellte Kompendium „Game Changers. The Evolution of Advertising.“ (Taschen) durchzuckt es mich auf nahezu jeder Seite. Diese Kampagnen dürften so ziemlich jedem haften geblieben sein. Und genau darum geht es: quasi mit aller Gewalt, unter Nivellierung jeglicher Ethik und Moral einen publicityträchtigen Flächenbrand zu entfachen. Und der Kreative in diesem Prozess? Als genialischer Freigeist hat er hier eine Spielwiese par excellence gefunden, auf der er sich – vorgeblich sozialverträglich – ganz der öffentlichkeitswirksamen Selbstentäußerung hingeben darf.

Das gilt im Übrigen genauso für die Kunst. Auch hier sind von sich und ihrer Idee besessene Paria zuhauf unterwegs, die ihr soziales Umfeld keinen Pfifferling schert. Selbstredend nur fiktiv: Nach seinem unbelehrbaren Selbstmordkandidaten Harold und dessen diabolischem Widerpart Melvin hat einzlkind mit „Gretchen“ (Tiamat) in bissiger Absicht einen weiteren Präzedenzfall unerbittlicher Selbstwertschätzung geschaffen: die 75jährige Theaterregielegende Gretchen Morgenthau. Niemand kann ihr das Wasser reichen. Selbst nicht, als ihr das Wasser bis zum Hals steht. Nichts als Schwachmaten auf diesem Planeten. Von Tuten und Blasen keine Ahnung. Geschweige denn vom Savoir vivre. Erst recht nicht auf diesem gotterbärmlichen Eiland, auf das die für das irdische Sein völlig überqualifizierte „Frau Intendantin“ nach der Zerlegung eines Streifenwagens (natürlich zu Unrecht) verbannt worden ist. Was bleibt ihr anderes übrig? Dann muss sie die Revolution eben von hier aus starten. Jetzt erst recht. Man muss die Menschen nun mal zu ihrem Glück prügeln; ob sie wollen oder nicht.

Aus Ratlosigkeit resultierende Aggressivität macht sich in mir breit. Wie soll man auch nur einen dieser Unantastbaren aus seiner egofixierten Umlaufbahn katapultieren? Eine Einladung zur Reise über den „Saigoku“ (Schirmer/Mosel) wäre jedenfalls Perlen vor die Säue. So archaisch-entrückt, romantisch-meditativ sich Japans über 1.000 Jahre alter Pilgerweg auch in Cees Notebooms Texten und Simone Sassens Fotografien darstellt: Warum sollte sich ausgerechnet hier bei einem Hardliner die archetypischste Eigenschaft des Menschen in Luft auflösen, wenn schon vermeintlich weltoffene High-Fidelity-Esoteriker mit nichts als triefender Selbsterkenntnis von derartigen Pfaden der Erleuchtung zurückkehren? Zurückgeworfen auf sich selbst bedarf es mehr als 33 Tempel, um zwischen dem eigenen und den ganzen anderen Ichs zu vermitteln. Aus der Knechtschaft der Subjektivität gibt es kein Entrinnen. Und das ist für alle so. Vielleicht könnte man sich ja darauf verständigen.

LARS ALBAT

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