„Iiiieeehh! Da drückt sich dieser afrikanische Rotzlümmel seinen Rüssel doch an unserem Schaufenster platt. Dabei haben wir das heute Morgen erst putzen lassen. Is ja ekelerregend. Widerlich! Das is doch geschäftsschädigend. Was glupscht der so?! Die Uhren kann er sich doch eh nicht leisten. Und jetzt guckt der mich sogar an. Hilfe, das werden immer mehr. Die wollen hier rein…“
Ob die wirklich rein wollen, sei mal dahingestellt. Vor allem wollen sie erst mal raus. Dahin, wo die Lebensbedingungen lebenswerter sind; ganz so, wie es den Homo Sapiens von Afrika über Europa und Asien bis nach Amerika respektive Australien getrieben hat – was aber heute scheinbar nur noch den Reichen zusteht. Nicht zu vergessen, dass der Mensch (je ärmer er ist) erst dazu neigt, seine Heimat zu verlassen, wenn ihm das „Wasser bis zum Hals“ steht. Dummerweise tut ihm das im Zuge von Klimawandel und Kriegen, die schlussendlich allesamt „auf das Konto“ der Industrienationen gehen, mittlerweile allerorten. Da es jedoch nicht immer nur um Schuldzuweisungen gehen kann, suchen Dina Ionesco, Daria Mokhnacheva und Francois Gemenne mit ihrem „Atlas der Umweltmigration“ [Oekom] nach einem progressiv-adaptiven Lösungsansatz, der nicht ewig auf der „gescheiterten Anpassung“ rumreitet.
Dass dies nicht nur für die globale Politik, sondern andersrum auch für das flüchtende Individuum gilt, muss Erik Storeys Protagonist konstatieren, ist es für diesen doch mit einer Abkehr von der vermaledeiten Zivilisation nicht getan. Seine Vergangenheit beziehungsweise Familiengeschichte holt ihn selbst in den tiefsten Wäldern ein – und so macht sich der einstige Söldner zurück auf den Weg in „Karges Land“ [Piper], um seine Schwester aus den Fängen eines Drogenbosses zu befreien. Ein stereotyper, nichtsdestotrotz gekonnter Thriller mit der schlichtweg genialen Lehre „Erst denken, dann handeln“.
Weitaus konkreter (und hintersinnig-amüsanter) lässt sich bei Franzobel studieren, wo unser „Floß der Medusa“ [Hanser] hintreiben wird. Vor dem historischen Hintergrund der Havarie der französischen Fregatte im Jahr 1816 vor der Küste Mauretaniens, läuft bei dem österreichischen Kultautor regelrecht unsere gesamte hochkulturelle Zivilisation auf Grund. Aus den perfidesten Antrieben kämpft jeder gegen jeden – und ist gerade deswegen urkomisch, wenn es nicht so, beziehungsweise gerade weil es so, dramatisch ist.
Da hätte sich Gott den Aufwand mit Noah und der Arche eigentlich sparen können – bestünde nicht doch ein winzig kleiner Funken Hoffnung auf Erkenntnis. Mit welcher Brachialität der Mensch allerdings zu seiner Erleuchtung gezwungen werden muss, zeigt sich in Patrick Roths „Christus-Trilogie“ [Wallstein]. Ein numinoses, bildgewaltiges Himmelfahrtskommando in die mystische Hölle unseres Seins. Grandioses Hirnkino, psychotisch lodernd, zugleich hyperreal. Da brennt der Baum. In einem dem Untergang geweihten Abendland:
„Ja, ist das denn zu fassen. Da marschiert dieser Häuptling mit Kaftan und Käppi einfach samt seiner ganzen Bagage hier rein und blättert mal eben ein paar Tausender hin. Einmal Uhren für die ganze Familie. Und das auf unsere Kosten, mit unseren Steuern, von unseren Spenden, unserer Entwicklungshilfe. Na, dann frohe Weihnachten!“
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