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Zeit zu leben

28. Mai 2015

Bücher vom Sein und Nicht-Sein – Wortwahl 06/15

„Was besseres als den Tod findest du überall.“Die Beweisgrundlage für diese Behauptung mag noch so dünn sein. Nichtsdestotrotz erscheint das Schicksal, im Kochtopf oder als Salami in einer Wurstpelle zu enden, derart unverlockend, dass Esel und Hahn wohl gut daran tun, gemeinsam mit Hund und Katz‘ das Weite zu suchen und auf ihre alten Tage als Bremer Stadtmusikanten noch einmal auf ihre Kosten zu kommen. So sagen auch Arronax und sein Buddy Arcimboldi nicht nein, als sie kurz vor ‚Toreschluss‘aus dem Nichts eine Reise quer durch die USA gewinnen; der eine entlang der West-, der andere entlang der Ostküste. Dass sich das Ganze alsbald als surrealistisches Komplott erweist, tut ihrem überschäumenden Hang zur Narretei keinen Abbruch. Was ist das Leben, ach, die ganze Kultur, Sozialisation, Politik in der Rückschau denn anderes?! Ein fantastisches Lesevergnügen, bei dem jeglicher Idealismus seinen „Last Exit to El Paso“ [Wallstein] findet, während Autor Fritz Rudolf Fries vergnügt mit dem Gehstock winkt.

Grundsätzlich ist der Mensch jedoch derart in seinen eingeimpften Begierden verhaftet, dass ihm der Abstand für eine amüsierte Selbstreflexion abgeht. Wut, Hass, Trauer, Frustration, Angst und Gier schwingen vielmehr das Zepter. Selbst, wenn man sich zur Kitzbühl-Schickeria zählen darf, die sich alljährlich zum berühmtesten Abfahrtsrennen des Skizirkus‘ einfindet. Gefundenes Fressen für Sarkasten. Mit diabolischer Gehässigkeit lässt Albert Ostermaier all seine Protagonisten in ihre persönliche Mausefalle tappen; einem jeden „Seine Zeit zu sterben“ [Suhrkamp]. / Und auch bei Benjamin Percy heißt es nicht von ungefähr „Jemand wird dafür bezahlen müssen“ [Luchterhand]. Jede Story ein vorgezeichneter Höllenschlund, in den die jungen Helden glauben, sich hineinstürzen zu müssen. Im Kampf ums seelische Überleben. Unerbittlich, mit faszinierender Tiefenschärfe erzählt. / Eine bittere Klarheit, die auch Eric Hoaglands Langzeitprojekt „Reckoning at the Frontier“ [Kehrer] auszeichnet: So schaurig-cineastisch die düsteren Fotografien auch wirken, das perfide Kalkül von Narcos wie Regierungstruppen entlang der US-mexikanischen Grenze giftet einen regelrecht an. Und die Menschlichkeit? Zermahlen zwischen Mühlsteinen, die Schlimmeres als den Tod verheißen.

Im Gegensatz dazu lässt es sich im sozial vorbildlichen Schweden herrlich leichtfüßig über die Biegsamkeit und Beugbarkeit von Ethik und individuellen Normen schwadronieren. Mit „Ins Licht gerückt“ [Kein & Aber] wirft Klas Östergren dem Leser allerdings drei genialische literarische Essays vor die Füße, die einen unweigerlich über die zu kurzen Beine der eigenen Seinslüge stolpern lassen. Anscheinend muss erst die persönliche Abwrackung anstehen, bevor man sich seiner selbst bewusst wird. / Schluss mit Selbstmitleid! In den Schredder mit den vorgestanzten Idealen. Was erhebt denn den Sonntag über die anderen Wochentage?! Sind wir nicht alle „Die Fliege Dienstag“ [Edition_]?! Manchmal bringen es erst Kinderbücher wie diese treffliche Fabel von Marcel René Marburger [in kongenial stimmungsvollen Collagen von Vanessa Karré illustriert] auf den Punkt: Als Eintagsfliegen bleibt uns Menschen nicht viel Zeit, uns und unser jeweiliges Leben anzunehmen. Bremen ist überall.

LARS ALBAT

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