Als ihre Großmutter stirbt, reist Marie nach Langem wieder in die Region Finnmark, in der sie aufwuchs. Sie lebt inzwischen in Frankreich und sieht sich durch den Tod ihrer Vorfahrin und ebenso durch die kürzliche Geburt der eigenen Tochter mit alten Wunden und Identitätskonflikten konfrontiert. Als Samin erlebte sie Diskriminierung in ihrer Schulzeit, während die norwegische Kultur viele Lebensbereiche dominierte. Samische Stimmen im Literaturkanon oder der Geschichtsschreibung: Fehlanzeige. Erst durch einen Museumsjob lernte Marie mehr über samische Kulturgeschichte. In der Folge kritisierte sie immer vehementer die norwegische Assimilierungspolitik und wanderte schließlich aus. Im Alltag spricht sie nun Französisch, doch fragt sich, wie sie Mutter in einer anderen Sprache sein könne als in ihrer eigenen.
Dass die Protagonistin mit Schuleintritt immer weniger Samisch spricht, ist ein typischer Verlauf für den Gebrauch von Minderheitensprachen, den der Roman nachvollziehbar darstellt. Hier kommen innere wie äußere Faktoren von Sprachbedrohung zusammen: Mitunter versprechen sich Mitglieder einer Sprachgemeinschaft selbst bessere Bildungs- und Berufsaussichten, wenn sie die Sprache der Mehrheitsgesellschaft nutzen. Zugleich kommt im Fall einer Assimilierungspolitik erheblicher Druck von außen hinzu.
Die so intime wie politische Erzählung steckt voller kluger Beobachtungen. Nedrejord stellt zunächst behutsam und schließlich immer deutlicher heraus, dass indigene Völker oft mit den gleichen Problemen kämpfen, ihre Kultur systematisch unterdrückt wird, während ihnen im Dialog eine „freundliche Tonlage“ abverlangt wird. Doch wenn selbst Smalltalk-Fragen zur Hinterfragung von Existenzberechtigung geraten, ist nur nachvollziehbar, dass der Roman teils in Großbuchstaben-Schreibung wechselt. Hier wird die Erzählung zum Manifest und bleibt dabei selbstreflektiert. Lesende können anhand von Rückblenden in das Leben von Marie und ihren Vorfahr:innen verfolgen, wie die Protagonistin emanzipiert und selbstbewusst feststellt: Es ist nicht die Mehrheit, die entscheidet, wann es genug ist, sich mit der Vergangenheit und den eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen.
Kathrine Nedrejord: Acht Jahreszeiten | Aus d. Norw. von Stefan Pluschkat | eichborn | 400 S. | 24 Euro
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