Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
22 23 24 25 26 27 28
29 30 1 2 3 4 5

12.558 Beiträge zu
3.787 Filmen im Forum

Ute Frevert
Foto: Mike Wolff / Verlag Der Tagesspiegel

Demütigung

26. Oktober 2017

Ein Buch über den sozialen Tod und was man ihm entgegensetzen kann – Textwelten 11/17

„… als sollte die Scham ihn überleben.“ Mit diesen Worten endet Franz Kafkas Roman „Der Prozess“. Wie kann uns die Scham überleben? In Zeiten des Internets ist das kein Problem. Auch wenn man nicht mehr real existiert, steht man dort weiter am Pranger. Die Italienerin Tiziana Cantone nahm sich das Leben, nachdem ein Freund pornografisches Material von ihr ins Netz gestellt hatte. Auslöser für die Selbsttötung waren aber nicht die Bilder, sondern die Reaktionen auf sie. Oder die Tragödie der Izabel Laxamanas, die gegen das Verbot ihres Vaters verstieß, keine Selfies ins Netz zu stellen. Er schor ihr zur die Haare und veröffentlichte die Aktion in den sozialen Netzwerken. Izabels Scham darüber war so groß, dass sie nur noch den Tod als Möglichkeit sah, um das verletzte Selbst zu schützen.

Auch wenn Mobbing und öffentliche Demütigung mit den digitalen Medien eine ungeahnte Verbreitung gefunden haben, so zieht sich das Phänomen des Prangers durch die Menschheitsgeschichte. In den USA ist es heute noch üblich, Menschen auf einer Straßenkreuzung mit einem Schild auszustellen, auf dem ihre Verfehlung beschrieben wird. Wir kennen solche Bilder aus der Zeit des Nationalsozialismus, als Menschen jüdischer Herkunft oder solche die Beziehungen mit ihnen unterhielten ein Plakat umgehangen bekamen. Ute Frevert zeigt auf dem Cover ihres Buches „Die Politik der Demütigung“ eine junge Frau, der man 1944 in Frankreich öffentlich die Haare schor, weil sie eine Beziehung mit einem deutschen Besatzungssoldaten eingegangen war.

Warum tun Menschen das anderen Menschen an? Das alte pädagogische Muster geht davon aus, dass jemand für ein Vergehen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird, um ihn später wieder reumütig zu integrieren. Nur ist die Verletzung gemeinhin so tief, dass sie gleich einem Stigma nie wieder vergessen werden kann. Selbst den Nazis war dieser Zusammenhang irgendwann klar, so dass sie die Identifikation mit den Opfern fürchteten und von der Praxis des Prangers zunehmend absahen. Ute Frevert geht den historischen Entwicklungen nach und definiert den Kern des Phänomens, wenn sie sagt: „Es ist das Gefühl, Macht zu besitzen, anderen auch gegen deren Widerstand den eigenen Willen aufzwingen zu können.“ Je mehr Menschen an diesen Machtdemonstrationen teilnehmen, umso „genussreicher“ ist es für diejenigen, die die Demütigung inszenieren. In dem Moment, in dem sich die Delinquenten jedoch nicht mit der vorgegebenen Moral identifizieren oder das Publikum seine Sympathie mit dem Opfer bekundet, kann sich das Spektakel gegen den Verursacher wenden. Frevert beschreibt, wie das im Fall von Daniel Defoe in London geschah, als die Schaulustigen nicht ihn, sondern die Obrigkeit verlachten.

Neben dem Internet war und ist es immer wieder der Zeitungspranger, an dem die Hexenjagd ausgeht. Interessant zu beobachten, wie im Fall Dominique Strauss-Kahn sein Opfer gezielt gedemütigt wurde und wie im Fall von Harvey Weinstein jene Medien nun auf den Filmmogul losgehen, die sich ihm zuvor dienstbar gemacht hatten, als sie in seinem Interesse von ihm verschmähte Frauen in den Schmutz zogen. Ute Freverts Untersuchung liest sich ungemein spannend. So beschreibt sie, wie Staaten einander demütigen. Andererseits empfinden Menschen mitunter Gesten wie Willy Brandts Kniefall in Warschau oder Barack Obamas Ehrerbietung gegenüber dem japanischen Kaiser als Verletzung des eigenen Nationalstolzes. Letztlich sind wir alle die Öffentlichkeit, und es ist eine erfreuliche Fußnote dieses interessanten Buches, dass es uns daran erinnert, dass wir bei der unwürdigen Prozedur der öffentlichen Demütigung keineswegs mitspielen müssen.

Ute Frevert: Die Politik der Demütigung | S. Fischer Verlag | 330 S. | 25 €

Thomas Linden

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Arthur der Große

Lesen Sie dazu auch:

Kindheit zwischen Buchseiten
„Die kleinen Bücher der kleinen Brontës“ von Sara O’Leary und Briony May Smith – Vorlesung 05/24

Grenzen überwinden
„Frieda, Nikki und die Grenzkuh“ von Uticha Marmon – Vorlesung 04/24

Für Kinder und Junggebliebene
Gratis Kids Comic Tag 2024

Erwachsen werden
„Paare: Eine Liebesgeschichte“ von Maggie Millner – Textwelten 04/24

Wortspielspaß und Sprachsensibilität
Rebecca Guggers und Simon Röthlisbergers „Der Wortschatz“ – Vorlesung 03/24

Lebensfreunde wiederfinden
„Ich mach dich froh!“ von Corrinne Averiss und Isabelle Follath – Vorlesung 03/24

Das alles ist uns ganz nah
„Spur und Abweg“ von Kurt Tallert – Textwelten 03/24

Wut ist gut
„Warum ich Feministin bin“ von Chimamanda Ngozi Adichie – Vorlesung 03/24

Unschuldig bis zum Beweis der Schuld
„Der war’s“ von Juli Zeh und Elisa Hoven – Vorlesung 02/24

Das Drama der Frau um die 50
„So wie du mich willst“ von Camille Laurens – Textwelten 02/24

Sprachen der Liebe
„So sagt man: Ich liebe dich“ von Marilyn Singer und Alette Straathof – Vorlesung 02/24

Umgang mit Krebserkrankungen
„Wie ist das mit dem Krebs?“ von Sarah Herlofsen und Dagmar Geisler – Vorlesung 01/24

Literatur.

Hier erscheint die Aufforderung!