In „Patience“ erzählt Daniel Clowes von einer Liebesbeziehung und ihrem tragischen Ende. Doch so ganz final ist das Ende nicht: Nach dem gewaltsamen Tod der schwangeren Patience sucht der verzweifelte Jack ergebnislos den Täter. 15 Jahre später ist er ein frustrierter, zynischer Typ. Als er an eine Zeitmaschine gerät, reist er in Patiences Vergangenheit, um die Tat zu verhindern, und stößt auf die tragische Vorgeschichte seiner Frau, die wie so vieles zwischen den beiden unausgesprochen blieb. Clowes zeichnet gewohnt farbig und poppig, die emotionale Tiefe der komplexen und immer wieder etwas verwirrenden Zeitreise-Story haut einen indes um (Reprodukt).
Über 400 Seiten umfasst Guy Delisles neues Buch, die Handlung kann man aber in zwei Sätzen zusammenfassen: Als Novize einer ärztlichen NGO wird der junge Christophe 1997 von Tschetschenen entführt. Nach mehreren fehlgeschlagenen Geldübergaben kommt er nach 111 Tagen der absoluten Abschottung wieder frei. „Geisel“ ist ein dramaturgisches Wunder. Denn es passiert im eigentlichen Sinn fast gar nichts: Die Entführung und der Einzug in drei verschiedene Quartiere sind die einzigen Handlungsmomente neben der täglichen Routine der Essensaufnahme. Die Erzählperspektive bleibt subjektiv, von der Außenwelt erfahren wir nichts. Wie Christophe wissen auch wir nicht, was die Entführer wollen, ob sie einen Kontakt hergestellt haben oder ob sich jemand für seine Freilassung einsetzt. Schlimmer noch: Die Entführer sprechen nicht mal Englisch. Diese totale Isolation, in der es fast nur Christophes Gedanken gibt, entfaltet gleichermaßen eine klaustrophobische, existentialistische Stimmung wie auch allergrößte Spannung von der ersten bis zur letzten Seite (Reprodukt). In „Schläfer im Sand“ erzählen der Künstler Andreas Hedrich und der Ethnologe Sebastian Pampuch von mehreren Fluchtbewegungen. Den deutschen Aussteiger Güero hat es an die spanische Mittelmeerküste verschlagen, wo er mit dem Mexikaner Carlos frühmorgens den Müll von den Stränden räumt. Dort finden sie auch die angespülte Leiche des Senegalesen Thenga, dessen Geschichte im zweiten Teil retrospektiv erzählt wird. Zwischen Hotelbunkern, Müllhalden und afrikanischen Märkten entfaltet sich in Erdtönen gehaltenes Migrationsdrama, teilweise surreal und dennoch ganz wirklichkeitsnah (Mückenschwein Verlag).
Robert Deutsch hat sich der Biografie von Alan Turing angenommen. Der Mathematiker war ein Computerpionier, der im zweiten Weltkrieg Codes der Deutschen entschlüsselt hat. In den 50er Jahren ist er wegen seiner Homosexualität ins Visier der Polizei geraten und hat sich mit Anfang 40, gezeichnet von einer aufgezwungenen Hormontherapie, umgebracht – auch, weil er den frühen Tod seiner ersten Liebe nie verwunden hat. Deutsch nähert sich in „Turing“ dem skurrilen Mann mit aufwändigen Bildern und großer erzählerischer Freiheit, zwischen Zeitsprüngen, graphischen Experimenten und Märchenwesen (Avant Verlag). Mit „Der Araber von morgen“ hat Riad Sattouf bereits seine eigene Kindheit in Frankreich und diversen arabischen Ländern in Comicform erzählt. „Esthers Tagebücher“ ist nun eine Strip-Reihe, in der er Alltagsgeschichten einer Zehnjährigen aus seinem Freundeskreis nacherzählt. Es ist mal süß, mal rabiat und meist entwaffnend ehrlich, wie Esther die Welt sieht – die der Kinder und die der Erwachsenen (Avant Verlag).
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