L'enfant - Das Kind
Frankreich/Belgien 2004, Laufzeit: 95 Min.
Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Darsteller: Jérémie Renier, Déborah Francois, Jérémie Segard, Fabrizio Rongione,, Stéphane Bissot, Mireille Bailly, Anne Gérard, Bernard Marbaix, Frédéric Bodson, Léon Michaux, Samuel De Ryck, Hachemi Haddad, Olindo Bolzan, Sofia Leboutte, Marie-Rose Roland, Annette Closset, Philippe Jeusette
Von Anbeginn ihrer Karriere als Regisseure beschäftigen sich die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne mit sozialen Außenseitern. Erfolg haben sie damit erst seit ein paar Jahren. Das liegt daran, dass sie bis Ende der 80er Jahre fast ausschließlich im wenig publicityträchtigen Bereich des Dokumentarfilms gearbeitet haben. In ihren Filmen - in den 70er Jahren zunächst auf Video gedrehte Reportagen, später auch lange Dokumentarfilme - haben sie sich den Problemen der Arbeiter in der belgischen Industrieregion Wallonien, der Heimat der Dardennes, gewidmet. Mit den Problemen der Menschen am sozialen Rand der Gesellschaft beschäftigen sie sich bis heute - nur ist es seit den 90er Jahren das Terrain des Spielfilms, auf dem sie sich bewegen. Ihre Erfahrung als sozial engagierte Dokumentarfilmer wirkt sich allerdings nach wie vor auf ihre Filme aus - und macht sie so einzigartig.
"Das Kind" ist ein unauffälliger Film. Die Ästhetik tritt vollkommen hinter die Geschichte um die ungewöhnliche Kleinfamilie zurück. Als ständiger Beobachter verfolgt die Kamera die Protagonisten. Beobachtet, wie sie sich in ihrer Umwelt bewegen und wie sie miteinander umgehen. Dabei bleibt sie stets unauffällig im Hintergrund, wird weder selber Protagonist noch ist sie sichtbar Teil eines ästhetischen Programms. Das war beim Vorgänger der Brüder, dem eindrucksvollen Film "Der Sohn", anders: hier schlich die Kamera lauernd um die beiden Hauptdarsteller herum, rückte ihnen gefährlich nah, um sie auch ja keinen Moment aus den Augen zu lassen. Das entsprach exakt dem Verhältnis der beiden Figuren, die sich während des gesamten Films misstrauisch belauern. In "Das Kind" wird der Protagonist Bruno scheinbar sachlich beobachtet. Bei seinen kleinen Gaunereien, die er mit Hilfe einiger Teenager durchführt, beim Weg zu seinem Unterschlupf an der Ausfahrtstraße, den er nutzt, wenn er die Wohnung aus Geldnot untervermietet, bei nächtlichen Deals. Das wirkt zunächst wie ein wenig durchdachtes 'abfilmen'. Aber das ist es natürlich nicht. Die Nähe und Intensität, mit der die Dardennes ihren Figuren folgen, verrät auch eine starke Zuneigung. Man glaubt es kaum: Diesem Typ, der mit dem Geld - wenn etwas da ist - gedankenlos um sich schmeißt, um einen Sportwagen für einen Tag zu mieten oder eine teure Lederjacke zu kaufen, aber nicht für seine Freundin oder sein Kind sorgen kann, soll man Zuneigung entgegenbringen?
Es fällt schwer, aber gerade die intensive Beobachterhaltung ermöglicht es den Dardennes und durch sie auch dem Zuschauer, den Protagonisten nicht zu verurteilen. Die reservierte Zuneigung der Dardennes für Bruno zeigt sich vor allem in der zweiten Hälfte des Films, als Bruno nach der ungeheuerlichen Tat, das eigene Kind zu verkaufen, und nach Sonjas Zusammenbruch merkt, dass er einen großen Fehler begannen hat und ihn wieder gut machen will. Mit "wir können ja ein Neues machen", wie er seiner Freundin vorschlägt, ist es aber nicht getan. Also jagt er durch seine Heimat, eine ärmliche Industriestadt mit heruntergekommenen Arbeitersiedlungen, desolaten Industriegeländen und Gewerbegebieten voller leerer Versprechungen, um sein Versprechen, das Baby wieder zu holen, trotz aller Widerstände einzulösen. Die Dardennes bleiben Bruno bei all dem dicht auf den Fersen und spüren damit all die inneren Zwiespälte dieser Person auf.
Der Stil der Brüder Dardenne ist minimalistisch, ohne der Gefahr zu erliegen, dem Konzept des Minimalismus die eigenen Figuren zu opfern. Wenn man genau hin sieht, merkt man, dass dem vermeintlich schlichten Beobachten, dem einfachen Abfilmen meist perfekt arrangierte Einstellungen zu Grunde liegen, die sehr geschickt diese große Nähe zu den Figuren herzustellen wissen. Dass man diese inszenatorischen Kunstgriffe aber kaum wahrnimmt, ist die große Kunst dieser beiden Regisseure.
„Ich mag realistische Komödien lieber“
Josef Hader über „Andrea lässt sich scheiden“ – Roter Teppich 04/24
„Kafka empfand für Dora eine große Bewunderung“
Henriette Confurius über „Die Herrlichkeit des Lebens“ – Roter Teppich 03/24
„Alles ist heute deutlich komplizierter geworden“
Julien Hervé über „Oh la la – Wer ahnt denn sowas?“ – Gespräch zum Film 03/24
Sterben
Start: 25.4.2024
Der Junge, dem die Welt gehört
Start: 2.5.2024
Zwischen uns das Leben
Start: 1.5.2024
Bad Director
Start: 9.5.2024
Robot Dreams
Start: 9.5.2024
Nightwatch: Demons Are Forever
Start: 16.5.2024
Furiosa: A Mad Max Saga
Start: 23.5.2024
Bezeugen, was verboten ist
NRW-Kinopremiere: „Green Border“ von Agnieszka Holland mit Vorgespräch
Golda – Israels Eiserne Lady
Start: 30.5.2024
May December
Start: 30.5.2024
Führer und Verführer
Start: 11.7.2024
Love Lies Bleeding
Start: 18.7.2024
„Man kann Stellas Wandel gut nachvollziehen“
Jannis Niewöhner über „Stella. Ein Leben.“ – Roter Teppich 02/24
The Monk And The Gun – Was will der Lama mit dem Gewehr?
Start: 1.8.2024
Alien: Romulus
Start: 15.8.2024
Das Licht
Start: 17.10.2024
Hagen
Start: 31.10.2024
„Versagen ist etwas sehr Schönes“
Regisseur Taika Waititi über „Next Goal Wins“ – Gespräch zum Film 01/24
„Ich muss an das glauben, was ich filme“
Denis Imbert über „Auf dem Weg“ – Gespräch zum Film 12/23
Sieben Spitzenprämien-Gewinner
Kinoprogrammpreis-Verleihung in der Wolkenburg – Foyer 11/23
Kino galore
European Arthouse Cinema Day 2023 – Festival 11/23
„Zufriedenheit ist eine innere Einstellungssache“
Stefan Gorski über „Ein ganzes Leben“ – Roter Teppich 11/23