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Zerbrechlich

20. November 2019

Literarische Blicke auf Beziehungen und Liebe – Wortwahl 11/19

Kintsugi ist das Kunsthandwerk, zerbrochenes Porzellan mit Gold zu reparieren. Hier wird fragiles Material nicht aufgegeben, sondern daran gearbeitet. Miku Sophie Kühmel überträgt diese Tradition in ihren Roman „Kintsugi“ (S. Fischer) auf Beziehungen, auf deren Zerbrechlichkeit. Der Roman spielt an eisigen Märztagen in dem Ferienhaus von Max und Reik, die zusammen mit ihrem Freund Tonio, mit dem Reik eine sehr lange und innige Freundschaft verbindet, und dessen erwachsener Tochter Pega ihr 20-jähriges Jubiläum dort verbringen. Die Handlung beschränkt sich auf die Ereignisse im Haus, dem vereisten See davor und dem kahlen Wald darum und wird gegliedert durch die gemeinsamen Essen je um acht Uhr morgens und abends. Diese Tischgespräche sind auch die treibenden Momente: Hier wird diskutiert, die Personen geraten auch mal aneinander. In den Gedankengängen der einzelnen Figuren erfährt man ihrer aller Geschichten. Dunkle und unangenehme Geheimnisse, die eine Figur in ihren Gedanken den Leser*innen vorenthält, beschreibt die andere später. Man erhält einen sehr intimen Einblick in die Gedankenwelt der Vier und in ihre Beziehungen zueinander. Vor allem auch einen ehrlichen – insbesondere in die Liebesbeziehung zwischen Max und Reik: Sie beschreiben auch die für sie negativen Eigenschaften des Partners und Momente, in denen sie fast aufgegeben hätten. Diese Tiefen werden aber nicht dargestellt als Beispiele einer schlecht funktionierenden Beziehung, sondern als organischer Teil einer jeden. Doch kommen im Laufe der Geschichte auch scheinbar unüberwindbare Momente des Hinwerfens und des Nicht-Reparierens – nicht nur in der Beziehung der Liebenden, sondern auch zwischen Freunden, zwischen Vater und Tochter. So werden aus den Traumpaaren reale Personen mit eigenen Wünschen und Sorgen und es zeigt sich, dass selbst nach 20 Jahren sie sich nie ganz durchschauen. Kühmel schafft mit „Kintsugi“ ein ehrliches, nicht kitschiges Bild von Beziehungen, das mit traditionellen Darstellungen bricht und zeitgemäß auch von homosexuellen Paaren, alleinerziehenden Vätern und Müttern erzählt, ohne dass es gewollt wirkt. Ein wunderbar zu lesendes Buch, das durch seine Intimität mitreißt.

Unterschiedliche Liebesbeziehungen stellt André Aciman in seinem neuen Roman „Fünf Lieben lang“ (dtv) dar. Letztes Jahr wurde sein 2007 erschienener Roman „Call Me By Your Name“ (zu Deutsch „Ruf mich bei deinem Namen“) mit großem Erfolg verfilmt und verschaffte ihm die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums. Wer dadurch angezogen sein neues Buch lesen möchte, könnte vom Beginn des Romans erstmal ernüchtert sein. Die Geschichte über die erste Liebe des Protagonisten ist sehr ähnlich zur Geschichte von „Call Me By Your Name“. Er verliebt sich in einen Freund seines Vaters, der als Schreiner auf einer italienischen Insel arbeitet, wo seine Familie jährlich Ferien macht. So entsteht das Gefühl, man liest erneut die bereits erfolgreiche Geschichte. Im Folgenden werden in insgesamt fünf Kapiteln fünf Lieben zu Männern und Frauen beschrieben als jeweils unabhängige, chronologische Erzählungen, auch wenn sie zeitlich eigentlich ineinandergreifen. Er beschreibt seine Lieben und nur diese: Es ist spannend, dass er nicht sein ganzes Leben erzählt, sondern nur die Geschichten seiner Liebesbeziehungen wiedergibt. Es entsteht ein unvollständiges Bild des Protagonisten, manche Charakterzüge können nur erahnt werden. Aciman schreibt sehr poetisch, aber greift auch häufig auf Plattitüden und bedeutungsschwangere Symbole zurück, um das Lieben und Leiden zu verdeutlichen. Dadurch liest sich sein neustes Werk eher zäh.

Nicht nur durch seine Liebe, sondern auch durch sein ganzes Leben begleitet man den Protagonisten des Romans „Liebestölpel“ von Peter Wawerzinek (Galiani Berlin). Dieser wächst – wie der Autor selbst es auch tat – in einem Kinderheim auf. Seine einzige Bezugsperson dort ist Lucretia, ein eigenständiges und eigensinniges Mädchen, in dessen Bann er früh gezogen wird und von der er sich sein ganzes Leben lang nicht lösen kann. Sie ist für ihn nicht greifbar, immer wieder taucht sie unter und in den scheinbar schlechtesten Momenten wieder auf, kurz vor seiner Hochzeit zum Beispiel. Auch wenn sie ihm nie etwas verspricht, entscheidet er sich immer wieder für sie und weiß doch, dass sie wieder verschwinden wird. Sie braucht anscheinend dieses Ungewisse, diese Schwebe, während der Protagonist Sicherheit sucht und in Lucretia nicht findet. Der Roman, der zu Zeiten der DDR spielt, beschäftigt sich auch mit den Themen Freiheit und Grenzen.

Ist die Erzählung zu Anfang noch märchenhaft und reißt durch seine Mischung aus Lautmalerei, Naturmotiven, Kinderreimen und Wortneuschöpfungen mit, verliert sie im Laufe der Geschichte ihre Leichtigkeit und erzählt repetitiv von dem Auftauchen und Weggehen Lucretias. Sie wird dargestellt als eine unheilvolle Macht über ihn. Die eigenständige, unabhängige Frau wird schon zu Beginn zur „lebenslangen Liebeslast“ des Mannes deklariert und im Laufe der Geschichte immer mehr zum Ur-Bösen und Grund seines Scheiterns. Weil er sie bis zum Schluss nicht haben kann, muss sie sterben. So lässt sich die Erzählstruktur jedenfalls nach feministischen Theorien lesen und ist nicht romantisch, sondern überholt. Nach dem wunderschönen Anfang ist es sehr schade, welche Richtung der Roman einschlägt.

Miku Sophie Kühmel: Kintsugi | S.Fischer | 295 S. | 21 €

André Aciman: Fünf Lieben Lang | dtv | 348 S. | 22 €

Peter Wawerzinek: Liebestölpel | Galiani-Berlin | 299 S. | 20 €

Katja Egler

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