Ein Mädchen verschwindet. Suchtrupps werden organisiert, man durchkämmt die Höfe, die Felder, den Wald und die kleinen Seen der Umgebung des kleinen Dorfes in Mittelengland. Die Ermittlungen der Polizei bleiben ergebnislos, es vergehen Tage, Wochen, Monate, in denen die Menschen ihr Leben leben. Es hat sich etwas verändert, ohne dass jemand sagen könnte, worin diese Veränderung bestünde. Mit „Speicher 13“ legt die Verlagsbuchhandlung Liebeskind erstmals einen Text von Jon McGregor in Deutschland vor. Im letzten Jahr noch war der Roman für den Booker Preis nominiert. Eine Ehre, die man schnell nachvollziehen kann, da es nur einige Dutzend Seiten braucht, um McGregors Prosa zu verfallen.
Der Engländer hat nicht eine einzelne Hauptfigur, sondern bei ihm steht das ganze Dorf unter Beobachtung. Von der Familie der Schafzüchter, über die Pfarrerin, den Zeitungsherausgeber, den Metzger, den Töpfer und deren Familien, einschließlich der Kinder und Jugendlichen, lernt man sie alle kennen. Nicht zu vergessen die mit den Jahreszeiten sich wandelnde Landschaft und die Tiere vom Bussard und den Tauben bis zum Fuchs – sie alle werden von diesem Erzähler gesehen. Ein Buch wie eine Fernsehserie, freilich eine, die sich im Kino sehen lassen könnte und vor allem so geschnitten ist, wie ein packendes Filmereignis.
Mit großem Tempo erfolgen die Bildwechsel, von einer Person zur nächsten, von hier nach dort und manchmal in einem Textfluss, der nicht einmal durch einen Abschnitt unterbrochen würde. Wie eine gigantische Registratur funktioniert diese Prosa des ländlichen Lebens, die den Alltag aufnimmt. Wer hat mit wem Kontakt aufgenommen? Scheinbar banale Informationen, aus denen sich jedoch das Geflecht des menschlichen Lebens Zug um Zug verdichtet. Dabei verstreicht die Zeit, nicht nur in der Natur, sondern auch in den Beziehungen. Paare finden sich oder gehen getrennte Wege, manche Bewohner sterben andere ziehen fort oder kommen neu hinzu. Eine dunkle, nahrhafte Sinnlichkeit liegt im Ton dieses Romans.
Die große Kunst von McGregor besteht jedoch in der Präzision des Blicks, mit dem er diese unzähligen, mikroskopisch kleinen Momente aufnimmt. Wohin schauen die Kinder am Küchentisch, während ihnen die geschiedenen Eltern gegenüber sitzen? Warum blüht der Garten der Metzgerin viel üppiger, seit ihr Mann aus dem Haus ist? Wohin fahren die Teenager, um alleine zu sein? Wie schaut die Tierärztin nach einem Arbeitsbesuch auf den Schafzüchter, wie knöpft die Frau ihre Bluse zu, nachdem sie dem Mann ein Rendezvous entlockt hat? Der Roman führt einen in zarte, hellsichtige, sinnliche und traurige Augenblicke des Beziehungslebens, und das in einer Fülle, die für ein Dutzend Romane Stoff bieten würde.
Jon McGregor: Speicher 13 | A. d. Engl. v. Anke Caroline Burger | liebeskind | 352 S. | 22 €
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