Es ist eine Welt, die im Begriff ist zu verschwinden. Die Kneipe an der Ecke, eine Handvoll Gäste, alles Männer, die lässig an der Theke lehnen. Dahinter ein Wirt, Gläser spülend mit bedächtigen Bewegungen, die Langeweile soll ja nicht allzu quälend spürbar werden. In seinem neuen Roman „Dämmerung der Leitwölfe“ taucht Werner Streletz in dieses Universum aus Bier und Cola ein, in dem sich Männer in fortgeschrittenem Alter wohler fühlen als zuhause bei der Familie oder alleine vor dem Fernseher. Nur gibt es diese Kneipen kaum noch und das bietet Anlass zur Melancholie. Die leise Trauer über vergangene Lebenszeit gibt dem Roman von der ersten Seite an sein besonderes Aroma.
Ein allwissender Erzähler erinnert sich an die Schulzeit von Sikorski und Beton. Vornamen zählten in dieser Generation nicht, die noch den Atem ihrer Väter im Nacken spürt. Eine geschlossene Welt der Jungs, in der die Regeln der Teenagerzeit immer noch die Richtung vorgeben, wenn man mittlerweile auch in die Jahre gekommen ist. Die Anwesenheit von Frauen würde helfen, aber der Roman spart ihre Anwesenheit konsequent aus. Werner Streletz lässt sich Zeit für den Konflikt zwischen den Kontrahenten Sikorski und Beton. Letzterer beginnt sich für Kunst zu interessieren und versammelt eine Gruppe von Talenten um sich. Sikorski kann sich vorstellen, für sie eine große Bühne zu schaffen, während Beton die Öffentlichkeit meidet. Mit den Jahren entwickelt er eine immer stärker ausgeprägte Mischung aus Misstrauen und Lebensekel, die zunehmend die Freundschaft vergiftet.
Die Stärken des Romans bedingen seine Schwächen. Werner Streletz entwirft mit Akribie das Ambiente der Trinkhallen, Kneipen oder der Kirmes. Eine Welt vor aller Digitalisierung, an deren Details er wortreich klebt. Sie ist weit mehr Gegenstand des Romans als die schleichende Feindschaft der Männer, der letztlich die dramatische Zuspitzung fehlt. Subtil sickert hingegen die Trauer über die Sprachlosigkeit der Jungenwelt in die Geschichte ein. Werner Streletz zeigt treffend, dass man nicht gelernt hat, hinter die Regeln der Kumpanei zu schauen, um echte Nähe herzustellen.
Werner Streletz: Dämmerung der Leitwölfe | Projekt Verlag | 170 S. | 14,80 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Informationstechnik für Anfänger
„Ada & Zangemann – Ein Märchen über Software, Skateboards und Himbeereis“ von Matthias Kirschner – Vorlesung 08/22
Nerds retten die Welt
„RCE: #RemoteCodeExecution.“ von Sibylle Berg – Klartext 08/22
Gesellschaftscomic
In wilden Bildwelten quer durch die Bevölkerung – Comickultur 08/22
Sanftmut und Leidenschaft
Die Entdeckung des Romanciers André Dhôtel – Textwelten 08/22
Tierische Kuriositäten
Juri Johanssons „Von Schildflöten, Herdmännchen und Großmaulnashörnern“ – Vorlesung 08/22
Keine falsche Scham
„Mut zum Blut“ von Chella Quint – Vorlesung 07/22
Befreiungskampf und Erinnerung
Zwischen indigenen Feminismen und Literaturklassikern – Comickultur 07/22
Spaziergang durch Houston
Bryan Washingtons „Lot. Geschichten einer Nachbarschaft“ – Klartext 07/22
Du spinnst wohl!
Nachruf auf den Wuppertaler Cartoonisten POLO – Portrait 07/22
Ein Planet, viele Menschen
„Alle zählen“ von Kristin Roskifte – Vorlesung 06/22
Unendliche Weiten
Alice Beniero illustriert „Das Weltall“ – Vorlesung 06/22
Untergehendes Abendland
„Vernichten“ von Michel Houellebecq – Klartext 06/22
Im Grenzbereich
Pro AKW, Sex & Gewalt und ein sprechendes Känguru – Comickultur 06/22
Bunte Märchenwelt
„Märchenland für alle“ von Boldizsár M. Nagy – Vorlesung 05/22
Ein amerikanischer Traum
Bilderbuch „Kamala Harris“ – Vorlesung 05/22
Roadtrip ins Ende
„Ende in Sicht“ von Ronja von Rönne – Klartext 05/22
Faszinierend und verstörend
Düstere Welten in Comics – Comickultur 05/22
Situationskomik und Tiefgründigkeit
Debbie Tungs Comic „Quiet Girl“ – Vorlesung 05/22