Schon klar: 'ne gute Story ist das A und O. Aber: Ohne Stil geht gar nix. Er kreiert die Atmo, welche die Story trägt, den Leser fesselt, mitreißt. Man nehme zum Beispiel Patrick Modiano. Den Literaturnobelpreis hat er sicherlich nicht für die Erfindung besonders fintenreicher Handlungsfäden erhalten. Im Gegenteil: Er lässt vielmehr das Leben erzählen und verleiht dabei seinen Figuren eine geheimnisvolle Aura, wie es ihm auch in „Gräser der Nacht” [dtv] wieder gelingt. Scheinbar ziellos treibt der minderjährige Erzähler im Kielwasser einer unergründlichen Studentin durch das Paris der 60er Jahre. In einer rettungslosen Romantik, aus der sich en passant der historische Kriminalfall um die Ermordung des marokkanischen Exilpolitikers Ben Barka schält. Großes französisches Kino das! / In Andor Endre Gelléris Budapester „Großwäscherei” [Guggolz] aus dem Jahre 1931 sind es hingegen Melancholie und Fatalismus, die sich zu wabernden Dunstschwaden verdichten – aus denen sich nicht allein das Personal, sondern auch die Maschinerie in geradezu mystischer Lebendigkeit schält.
Im krassen Gegensatz dazu steht Alexandra Kleemans pathologische Sektion einer ‚Jugend’ im Beauty- und Konsumwahn. Im Original unter „You Too Can Have a Body Like Mine” erschienen, spiegelt sich im deutschen Titel „A wie B und C” [Kein & Aber] weit deutlicher die Entindividualisierung durch die Uniformität der idealisierten Individualität wider. / Massiv dazu bei trägt selbstredend der industrialisierte, hemmungslos verinnerlichte und widergekäute Starkult. Posterheroen, die in ihrer Oberflächlichkeit für jede Rolle taugen. Wie irdisch nah wirken da Sante D'Orazios „Polaroids” [Schirmer Mosel] dieser Supermodels und Leinwandlegenden. Das Hinterlistige daran: Das fotografische Verfahren verleiht der genialischen Inszenierung eine scheinbare Authentizität, die der schwelgerischen Ikonisierung weiteren Vorschub leistet. Einfach traumhaft! / Und doch haftet auch jenen, denen derartige Träume vergönnt waren, und die nunmehr im Herzen Hollywoods ihr stilles Dasein fristen, etwas Heldenhaftes an. Das mag an der Location liegen, jener „Villa Bonita” [Kehrer], die zu ihren glamourösen Zeiten die Flynns und Coppolas beherbergte. Auch an Pamela Littkys famoser Porträtfotografie, in der die Biografien der heutigen Bewohner fast greifbar scheinen. Nicht zuletzt aber an der stolzen Hartnäckigkeit, mit der diese ‚ihr Ding’ durchziehen.
Doch zurück zur Literatur: Auch Owen Sheers breitet das Porträt eines Mannes vor uns aus, der seinen großen Traum, in diesem Fall seine Frau, begraben musste. Die Gefahr, sich in Selbstmitleid zu verlieren ist nah, doch „I Saw a Man” [DVA] profitiert nicht nur von der Spannung die aus der Rahmenhandlung hervorgeht, sondern auch von der Gabe des Immersionsjournalisten, sich aus dem Erlebten herauszuschreiben … / Als wahrer Gralsritter der Atmo erweist sich allerdings Cormac McCarthy in seinem heuer, gut fünfzig Jahre nach Erscheinen übersetztem „Feldhüter” [Rowohlt]: Über weite Strecken ist es allein eine knorrige Melange aus Anekdoten, Erinnerungen und Handlungsfetzen, die dunkel-melodiös, erdig-rau um das pure Überleben in einer archaischen Welt kreist – und nur widerwillig den Zusammenhang der Schicksalsstränge preisgibt. Sprachverliebt? Aber/und urgewaltig!
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