Puh, Ute Mahlers Fotozyklus „Zusammenleben“ [HatjeCantz] zieht einem die Schuhe aus. Es ist ein trauriger, schmerzhafter Sog, in den man beim Anblick der privaten Momentaufnahmen aus zwei Jahrzehnten DDR fällt. Ob trotzigen Blickes oder kindlich unbeleckt, ob ewig verliebt oder jugendlich rebellisch, über sämtlichen Protagonisten liegt eine Unausweichlichkeit, die ins Herz sticht. Wir sind. Nicht mehr. Irgendwann kommt der Punkt, an dem sich all unsere hoffnungsvolle, eifrigst betriebene Sinn-Aufladung der Existenz in Luft auflöst. / Nicht anders verhält es sich mit den Randgestalten auf Jens Eisels St. Pauli. Sie flackern wie die „Hafenlichter“ [Piper], erträumen und erhoffen sich des Nachts zweifelhafte Erfolge, um mit der Morgendämmerung zu erlöschen, unterzugehen im grauen Hamburger Schmuddelwetter, vergessen auf dem kulturhistorischen Abstellgleis. Naive Sozialromantik?! Oder doch eine Infragestellung der grundsätzlichen Relevanz von Wünschen und Zielen …
Der gute alte Brenner macht sich da jedenfalls nichts mehr vor. Wolf Haas‘ Kultkommissar weiß und wittert: Ja, die Russinnen. Die sind schon ‘ne Verlockung, wie sie da so im Internet mit sich und ihren Vorzügen prunken. Aber Obacht. Lieber die Herta an der Hand, als die „Brennerova“ [Hoffmann & Campe] auf dem Dach. Natürlich kann er doch nicht die Finger von der Tastatur lassen und steht plötzlich mit abgehakten Händen da, wenn auch nicht seinen eigenen. Einfach genial krude, im Zeichen aberwitziger Gewalt, nicht zuletzt gegenüber der Sprache – und der menschlichen Intelligenz. / An der zweifelt man auch in Arthur Larrues der anarchistischen Künstlergruppe „Wojna“ [Wagenbach] gewidmetem Debutroman. Ob das ausgemergelte Protestkollektiv, die in UdSSR-Idealen klebengebliebene Rentnerin oder der trotzig das Gesetz selbst gegen eigene Widerstände verteidigende Sergeant, sie alle lieben, kämpfen für ihr Russland, gegeneinander, obwohl sich das, was sich Russland nennt, ‘nen feuchten Kehrricht für sie interessiert. Ein bitterböser Fall von Realsatire, bei dem einem gar nicht zu Lachen zumute ist.
Im Grunde verhält es sich da mit dem Leben wie mit bewusstseinserweiternden Drogen: Die Bodenlosigkeit unserer Existenz wird schnell zum Horrortrip, wenn man nicht ein paar standfeste Compañeros an seiner Seite hat. Da mag der unbeleckte Teenie Jack in Joe R. Lansdales grandios morastigem Coming-of-Age-Western zwar zunächst zweifeln, aber bessere Gefährten als das Auftragsmördertrio, bestehend aus einem belesenen Liliputaner, einer schwarzen Dampfwalze und einem unberechenbaren Keiler, gibt es kaum. Erst recht nicht, um sich durch „Das Dickicht“ [Tropen] zu schlagen und seine Schwester aus den Fängen einer abgefeimten Gangsterbande zu befreien. / Was die beruflichen Fähigkeiten angeht, wäre Leonard March auch keine schlechte Wahl gewesen. Doch Dave Zeltsermans „Killer“ [pulp master] hat nach seiner Haftentlassung viel zu sehr mit sich und seiner Geschichte zu kämpfen. Die einen verzeihen ihm nicht die 28 Auftragsmorde, die anderen nicht den Verrat seines Mafiabosses – während er selbst versucht, ein respektables Leben zu beginnen. Womit wir wieder bei der Crux wären: Was heißt denn schon respektabel? Und warum haben wir das alle so freiwillig verinnerlicht? Kill your ideals!
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