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Christiane Rath
Foto: Thomas Dahl

„Leben ist eigentlich der Ausnahmezustand“

25. Februar 2022

Christiane Rath über ihr Buch „Unvergessen“ – Interview 03/22

Die Künstlerin Christiane Rath eignete sich ein verwildertes Grab auf dem Kölner Südfriedhof an, um es über ein Jahr zu pflegen. Dabei entstand eine philosophische Reflektion über das Leben, die Vergänglichkeit und unsterbliche Gefühle, die im Buch „Unvergessen“ mündeten. Wir sprachen mit der Autorin kurz vor Veröffentlichung des Werks.

engels: Frau Rath, was verstehen Sie unter einer temporären Grabaneignung?

Christiane Rath: Es besagt, dass der Zeitraum meines Aufenthalts begrenzt war und ich die Entscheidung für die Pflege eigenständig getroffen habe. Später wurde daraus eine emotionale Anwandlung. 

Sie konnten sich für die Niederschrift nicht mit den Nachkommen der Verstorbenen – Heinz und Heinzchen Rausch – unterhalten. Wie haben Sie einen Bezug zu den Persönlichkeiten aufgebaut?

Ich habe nach der Familie zunächst im Internet geforscht, aber nichts gefunden. Dann wurde mir klar, dass ich eigentlich gar nichts über sie herausfinden möchte. Ich wollte dieses Grab vor allem als Gleichnis für menschliche Schicksale sehen. Ich habe mich intensiv mit den möglichen Geschichten dieser Menschen beschäftigt. Dabei merkte ich, dass ich begann, in meinen eigenen Erfahrungen zu suchen. Meine Geschichten sind in dieser mit enthalten. Diese Erfahrung war für mich erstaunlich.

Würde es Sie beunruhigen, wenn sich nach Buchveröffentlichung Angehörige melden, die ein komplett anderes Bild der Personen zeichnen?

Ich habe in dem Buch nicht nur eine, sondern viele mögliche Lebenswege der Charaktere erzählt und ihnen verschiedenste Viten zugedacht. Es wäre aufregend, wenn sich Mitglieder der Familie oder Bekannte melden würden. Ich glaube, sie wären mir nicht böse.

"Wir werden eines Tages alle vergessen sein"

Was haben Sie während der Friedhofsarbeit und dem Schreiben über die Vergänglichkeit gelernt?

Ich sehe das pragmatisch. Wir werden eines Tages alle vergessen sein. Das Leben ist auf diesem Planeten eigentlich der Ausnahmezustand. Das Nichtdasein ist dagegen in Anbetracht all der Milliarden an Verstorbenen das Normale. Während des Schreibens wurde mir auch klar, dass alle diese Lebensverläufe auch die meinigen sein könnten. Mein Vater und Bruder sind, wie Heinz und Heinzchen, leider schon verstorben. Diese unbekannten Toten auf dem Friedhof sind mir dadurch näher gekommen. 

Wie hat Ihre Familie reagiert?

Ein bisschen zwiespältig. Mein Mann hat mich von Beginn an unterstützt und bei der Grabpflege mitgeholfen. Mein jüngster Sohn war dagegen skeptisch. Er sah die ganze Sache als Tabubruch an, hat später aber verstanden, um was es mir ging. 
 
Musste die Grabpflege eigentlich mit der Friedhofsleitung abgesprochen werden?

Es hat sich scheinbar nie jemand über mich gewundert. Ich bin dort nie angesprochen worden. Es scheint sich dabei um eine juristische Grauzone zu handeln. Wenn Sie eine Rose auf das Grab einer Freundin legen, wird ja niemand etwas dagegen haben. Auch habe ich von Leuten gehört, die die Stätten ihrer Angehörigen in Ordnung halten und dabei das Nachbargrab etwas im Auge behalten. 

„Unvergessen“ erscheint zunächst in limitierter Auflage im Eigenvertrieb. Könnten Sie sich eine Publikation im größeren Umfang vorstellen?

Ja, auch wenn mir dieser Gedanke etwas schwer fällt, denn viele Leute unterhalten sich scheinbar nicht so gerne über Friedhöfe. Ich denke, dass diese Thematik noch eine Nische ist.    

Neben den philosophischen Texten ist das Buch mit zahlreichen Bildnissen versehen, die Familienidyllen und Einzelpersonen zeigen. Wie kamen Sie an die Fotos?

Die Bilder stammen aus Fotoalben, die mir geschenkt wurden oder die ich auf Flohmärkten fand, da ich nicht auf Originalaufnahmen der Familie Rausch zurückgreifen konnte. Das spielte für mich aber keine Rolle, denn die Gesichter und Geschichten sind im Leben oftmals austauschbar. Der Herr in der dritten Reihe einer Feierlichkeit könnte ebenso gut ein Onkel oder entfernter Verwandter von mir sein, den man nie kennengelernt hat.

Die aufwändige Gestaltung unterstützt den sinnlichen Gehalt des Werkes. Es ist in gewisser Hinsicht auch ein Bildband.

Ohne meine Graphikerin Ines Braun wäre das Buch so nicht entstanden. Sie hat sich um das gesamte Layout gekümmert und dabei hervorragende Ideen eingebracht. Sie muss unbedingt erwähnt werden.

Werden Sie die Recherchen um die Familie Rausch fortsetzen?

Nein. Ich werde aber sicherlich immer mal wieder das Grab besuchen, auch, um dort Unkraut zu zupfen.

Christiane Rath: Unvergessen – Eine temporäre Grabaneignung | 76 S. | 30 € | Bestellung unter: christiane@rath-art.de

INTERVIEW: THOMAS DAHL

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