Kann Literatur schwindende Erinnerungen, Lebensräume und Lebensweisen abbilden? Die diesjährige Wuppertaler Literatur Biennale widmet sich unter dem Motto „Vom Verschwinden“ den Spuren vergangener Zeiten sowie der Zukunft, die durch die Vergänglichkeit des Jetzt entsteht.
Eingeleitet wird die Biennale am 3. Mai mit Michael Köhlmeiers neuem Roman „Das Philosophenschiff“, der das Ende einer Ära beschreibt: In Sankt Petersburg hat der Kommunismus sein utopisches Potenzial verloren, stattdessen herrscht der Terror des Bolschewismus. Ein junges Mädchen wird von Lenin mit einem Schiff ins Exil verbannt und trifft an Bord auf niemand Geringeren als Lenin selbst.
Das Programm des folgenden Samstags dreht sich gänzlich um die Wuppertaler Literaturszene. Halim Youssef präsentiert sein Buch „99 zerstreute Perlen“. Darin wird der syrische Übersetzer Azado bei seiner Arbeit mit Geflüchteten mit zerstörten Träumen und unerfüllten Sehnsüchten konfrontiert, die ihn an seine eigene Lebensbiographie erinnern. Auch in Christiane Gibiecs Roman „Nedderend“ geht es um die Bewältigung der Vergangenheit: Vier Jugendliche machen es sich 1967 zur Aufgabe, die NS-Geschichte Oldenburgs und die Schicksale der einst hier lebenden Sinti-Familien aufzudecken.
Viele junge Stimmen der Gegenwartsliteratur kommen beim Festival zu Wort. Dana von Suffrin reflektiert in „Nochmal von vorne“ den Tod eines jüdischen Familienpatriarchen und dessen Folgen für das Gefühlsleben der Protagonistin. Johanna Sebauer erzählt von Plan selbsternannter Oblivisten, das kleine Dorf Nincshof zu verstecken, um der Hektik der Außenwelt zu entgehen. Auch die Hauptfigur von Jenifer Beckers Debüt „Zeiten der Langeweile“ versucht, ihre Spuren zu verwischen: Aus Angst vor der Sichtbarkeit stellt eine dreißigjährige Frau jegliche Online-Aktivitäten ein – doch die analoge Welt ist ganz schön einsam.
Zahlreiche Formen des Verschwindens werden auf der Biennale sichtbar. Während Jan Kuhlbrodt so die Ausblendung von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft thematisiert, diskutieren Mirjam Zadoff und Ibou Diop den Verlust der Erinnerung. An diversen Orten in Wuppertal, darunter auch der historische Gerichtsaal, setzen die Autor:innen auf diese Weise dem Verschwinden ihre Sprache, ihre Ideen und ihre Geschichten entgegen.
Wuppertaler Literatur Biennale 2024 | 3. - 11.5. | div. Orte in Wuppertal | wlb.wppt.org
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