Als „genialen Narr“, als ein „Theatergespenst“, das "bizarr und bescheuert“ die Bühne heimgesucht habe, hat die Theaterkritik Jan Decorte bezeichnet. Ob diese Charakterisierung dem belgischen Regisseur und Autor gerecht wird, kann jeder bei der diesjährigen Ruhrtriiiennale (tatsächlich: mit drei iii) selbst beurteilen. In „Much Dance“ macht er sich auf die Suche von Liebe und Tod. Doch wo „Dance“ draufsteht, muss nicht unbedingt Tanz drin sein. Klar, man kann ausgiebig darüber streiten, ob Bewegung – also jede Bewegung bis hin zum Finger, der sich krümmt – gleich Tanz sei. Immerhin hat Johan Simons, der neue Intendant der Ruhrtriennale das Stück in der Rubrik Tanz verortet, auch wenn es keine Virtuosität, keine trainierten Körper, keine Tanzgrammatik, dafür aber eine „Anarchie der Bewegung“ geben wird. Ehrlicher wäre wohl, hier von Performance statt Tanz zu sprechen.
Umso mehr stehen für Choreografie und für Tanz, der über die Fingerkrümmung hinausgeht, die drei anderen Tanz-Beiträge dieser Ruhrtriennale, denen sicher auch keine strenge Tanzgrammatik unterstellt werden kann. Mit seinen Visionen von der Hölle zwischen Dantes „Inferno“ und Sartres „Geschlossener Gesellschaft“ startet Richard Siegal mit seinem Stück „Model“ in der Kokerei Zollverein, Essen. Ein wesentliches Element, so die Theaterzeitung der Ruhrtriennale, wird bei ihm die Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen und den klassischen Ballettkörpern sein.
Mit Anne Teresa De Keersmaeker und Meg Stuart / Damaged Goods wird man in der Rubrik Tanz auch alte Bekannte wiedertreffen. Auch sie beschäftigen sich mit der Liebe, ihren Nuancen und dem Tod. Choreografisch geht es De Keersmaeker in „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ um die Erkundung des Moments, wo aus Atmen, Geräusch, aus Rede und Gesang, Bewegung entsteht.Und Meg Stuart wird, inspiriert durch Cornelius Gurlitts objektbezogene Liebe zu seinen gehorteten Bildern, in „Until Our Hearts Stop“ solch ungewöhnlichen Formen von Liebe und Intimität nachgehen.„Liebe nimmt so viele Formen an. Warum konnte er den Genuss nicht mit anderen Menschen teilen?“, fragt die Choreografin.
Wenig Tanz also diesmal, denn leider bezieht Johan Simons sein Leitmotiv „Seid umschlungen“ weniger auf die Künste und ihre Genres als auf das Ruhrgebiet insgesamt. Doch seiner Behauptung, dass das Ruhrgebiet noch immer auf der Suche nach einer neuen Identität und einem neuen Sinn sei, steht längst ein gelungener kultureller Strukturwandel gegenüber. Mag ja sein, dass Johan Simons für die Zeit seiner Intendanz eine eigene „Duftmarke“ setzen will. Aber muss dazu die Ruhrtriennale neu erfunden und zur „Ruhrtriiiennale“ werden? Ob das triple-i ein dreijähriges künstlerisches Wachstum signalisiert oder nur den Zeitrahmen seiner Intendanz, bleibt derzeit noch offen. „Seid umschlungen“ kann nämlich auch „umklammern, ersticken“ heißen, so Simons selbst.
Ruhrtriiiennale – Festival der Künste | 14.8.-26.9. | www.ruhrtriennale.de
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