In der Vergangenheit liegen oftmals die Antworten auf die Gegenwart. Erich Hackl ist jemand, der sie nicht sucht, dafür ist er viel zu sehr von seinem Interesse für die Menschen eingenommen, aber sie findet, weil er genau und umsichtig recherchiert. Der Österreicher schaut auf das Leben der kleinen Leute und findet Tragödien mit Verrätern, Mördern und Helden. Wenn man seine Bücher liest, wird einem sofort klar, dass Geschichten zwar erfunden werden können, aber nicht müssen – denn die Geschichten sind schon da. Man muss sie nur heben und aufschreiben. Ein Kunststück, das ihm schon oftmals gelang, seine Erzählung „Abschied von Sidonie“ wurde gar zum Bestseller. Jetzt erzählt er mit „Am Seil“ eine „Heldengeschichte“, wie es im Untertitel heißt. Ein Held ist jemand, der Entbehrungen und Risiko auf sich nimmt, um seine Freiheit zu erlangen. Gemeinschaften bewundern ihn dafür, weil sie im Stillen glauben, dass er damit stellvertretend für sie gelitten habe. Früher oder später bemerken sie aber, dass jeder nur sein eigener Held sein kann, und entsprechend ungnädig behandeln sie in ihrer Enttäuschung den Helden.
Reinhold Duschka hat mit keinem Wort erwähnt, dass er zwei Leben gerettet hat, als die Rechtsnationalen die Stimmung in Österreich anheizten und schließlich 1938 den Anschluss an Nazideutschland herstellten. Auch als man ihn in den 60er Jahren dafür in Yad Vashem ehren wollte, winkte er ab und vermutete, dass sich dann die Kundschaft in Wien von ihm abwenden würde. Gerettet hat er Regina Steinig und ihre kleine Tochter Lucia, die eine jüdische Herkunft besaßen. Regina war promovierte Chemikerin und konnte Wien nicht mehr rechtzeitig verlassen. So nahm Reinhold, der einmal mit Lucias Vater befreundet war, die beiden in seiner Werkstatt auf, in der er Kunstschmiedearbeiten herstellte. Was heißt es für ein Kind, vier Jahre in einem Versteck leben zu müssen? Lucia saugt begierig alle Anweisungen von Reinhold auf, der ihr geduldig während der Arbeitsvorgänge in der weiter produzierenden Werkstatt hilft. Von einem der Fenster kann sie die Kinder in der benachbarten Schule beobachten. Aber immer mit Vorsicht, dass niemand sie entdeckt. Da gab es manches Mal Tränen.
Erich Hackl fragt nach, rekonstruiert die Räume und setzt die Charaktere Stück für Stück zu einem Bild zusammen. Es gab keine Liebesbeziehung zwischen dem wortkargen Reinhold und der temperamentvollen Regina und dennoch ist es für ihn selbstverständlich, Verantwortung für sie und das Kind zu übernehmen. Hackl legt nahe, dass Reinholds große Leidenschaft – das Bergsteigen – eben genau diese Bereitschaft zu Rücksicht und Verantwortung verlangt. Dass Reinholds bedingungsloser Freiheitsdrang nicht allein selbstlose Hilfe beinhaltete, sondern im familiären Beziehungsleben große Probleme aufwarf, zeigt die Geschichte im Blick auf die Nachkriegsjahre, mit denen sich das Bild aller Beteiligten rundet.
Es ist immer wieder beeindruckend, wie Erich Hackl die Atmosphäre der Zeit und die beklemmende Welt der Denunziation zu beschreiben versteht. Da erzählt jemand nicht von oben herab, sondern bewegt sich wie mit einer Sonde in historischen Räumen. Darüber gerät ihm aber nicht das Einzelschicksal aus dem Blick, der Charakter eines Menschen, der das Individuum auch als ein Wesen betrachtet, das ein Stück weit aus den Verhältnissen seiner Zeit herausragt. Warum leisten Menschen Widerstand? Eine Frage die hier nur mit dem Hinweis beantwortet werden kann: Weil jemand ein natürliches Verständnis von Würde verinnerlicht hat. Reinhold Duschka hatte keine politische Botschaft im Ranzen, er konnte nicht anders, als den beiden zu helfen. Mit keinem Wort zieht Erich Hackl in seiner klaren, spannend geschriebenen Prosa Parallelen zur Gegenwart, aber sie liegen auf der Hand. Man bemerkt sie vielleicht nicht gleich, da sich die Geschichte so mitreißend entwickelt, dass man beim Lesen mit dem Fortgang der Ereignisse immer schneller über die Seiten fliegt.
Erich Hackl: Am Seil – Eine Heldengeschichte | Diogenes | 120 S. | 20 €
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