Gebenedeite Zeit der Besinnlichkeit: Scheckbücher werden gezückt und Ablass geleistet, alldieweil wir die armen Würstchen im Rest der Welt zu armen Würstchen gemacht haben. Wir tun Buße. Und genießen das erhebende Gefühl, eben nicht zu diesen armen Würstchen zu zählen. So lebt es sich angenehm besinnlich. Nur von Besinnung keine Spur. Als käme es einer Selbstkasteiung gleich, sich die eigenen Makel zu vergegenwärtigen. Da ergötzen wir uns doch lieber an Frevel und Verhängnis anderer Irdenlichter; auf dass diese nicht allzu viel Identifikationspotenzial bieten:
Guillermo Saccomanno: „Der Angestellte“ [Kiepenheuer & Witsch]: Wie beruhigend, nicht in solch einer Höllenmühle zu stecken: als Sklave seiner Brut, seines biederen Berufs, geifernder Gewalt und Gefühllosigkeit, in einem sauer verregneten Buenos Aires einer Anderszeit. Ist die Seele des Protagonisten zunächst noch ein »Buch der Unruhe«, die den Glauben an sich selbst nicht ganz aufgeben mag und eine Beziehung zur Sekretärin des Chefs riskiert, so macht sich alsbald kafkaeske Ausweglosigkeit breit. Eine so faszinierend-morbide wie treffliche Parabel, die sich‚zum Glück‘ locker leugnen lässt.
Stefan Schwarz: „Die Großrussin“ [rowohlt Berlin]: Noch leichter lässt sich das Schicksal des rechtschaffenen Uni-Dozenten Dr. Hasselmann abstreiten. Köstlich mundet die Schadenfreude, wenn man die Teufelsküche goutiert, in die sich die harmlose Ausgeburt deutscher Pedanterie manövriert hat, weil er vor Urzeiten das Geld für eine Scheinehe mit einer sibirischen Volleyballerin mitgenommen hat. Und jetzt das: ein unbekannter Sohn, dessen bloße Existenz mehr als den heiligen Familienfrieden gefährdet. Normative Ethik vs. Eastern Gangsta-Rap. Kräftig gerüttelt, nicht gerührt, zu einem skurrilen Stereotypencocktail, der für ein schallendes Gelächter sorgt, das die Untoten im eigenen Keller lässig übertönt.
Joe R. Lansdale: „Dunkle Gewässer“ [Heyne]: Schwieriger gestaltet sich der Fall mit diesem gottlosen Gesindel aus Osttexas. Allein schon diese Familienverhältnisse, aus denen die 16-jährige Sue Ellen mit ihren Freunden, der schwulen Intelligenzbestie Terry und der maximalpigmentierten Haudrauf Jinx, plus ihrer Laudanum-abhängigen Mutter den Sabine River runter flüchtet. Kein Wunder, dass ihnen der Teufel auf den Fersen ist. Gut, die Szene, in der Skunk ihnen ernsthaft auf die Pelle rückt, ist schon ein wenig hardcore, aber ansonsten könnte dieser Lansdale auch als Jugendbuch durchgehen – würde er der Abkehr vom Glauben an das Christkind nicht noch weiter Vorschub leisten.
Eiríkur Örn Norðdahl: „Böse“ [Heyne]: Profanes Verlangen vs. geistig hochtrabendes Ejakulat, dieser versatzstückelte Sündenpfuhl an Roman lädt geradewegs zur Kanalisierung hausgemachter Gefühlsfragmente ein. Zwischen historischem 3rd-Reich-Wahnsinn, leibhaftiger (hier: isländisch-litauischer) Verwurzelung und neofaschistischem Populismus lässt es sich grandios in Schuld- und Unschuldszuweisungen ergehen; zumal im Elend einer zeitgenössischen Lovestory mit dem personifizierten Bösen als Gegenspieler. Die Frage nach dem Bösen als per se jedem Menschen innewohnende Eigenschaft muss einen ja nicht tangieren – schon gar nicht, wenn man gerade mit Almosen um sich geschmissen hat.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Wattebauschwerfen
Die potentiellen Koalitionspartner im Lit-O-Mat – Wortwahl 10/17
Vienna Calling
Der Teufel zwischen Buch und Beisl – Wortwahl 09/17
Migration
Oder: Vom Fressen und Gefressen-werden – Wortwahl 08/17
T3 mit Einschränkungen
Erkenntnisse aus dem literarischen Elfenbeinturm – Wortwahl 07/17
Leichte Kost
Für eine kalorienbewusste Literaturzufuhr im Advent – Wortwahl 12/16
Musik in den Augen
Literaturtracks für den Sommer – Wortwahl 08/16
Tour de Force
In 14 Tagen mit 6 Büchern durch Thailand – Wortwahl 05/16
Wirkungstreffer
Trojaner in Buchform – Wortwahl 04/16
Fasteleer
Ein kleiner Geisterzug durch die Literatur – Wortwahl 02/16
Künstlerpech
Das Kreuz mit den besten Jahren – Eine Weihnachtspredigt – Wortwahl 01/16
X-Mas Time
Geschenktipps für Frühkäufer – Wortwahl 12/15
Minimesse
Sechs Nadeln aus dem Heuhaufen – Wortwahl 11/15
Die Liebe und ihre Widersprüche
„Tagebuch einer Trennung“ von Lina Scheynius – Textwelten 11/25
Inmitten des Schweigens
„Aga“ von Agnieszka Lessmann – Literatur 11/25
Mut zum Nein
„Nein ist ein wichtiges Wort“ von Bharti Singh – Vorlesung 10/25
Kindheitserinnerungen
„Geheimnis“ von Monika Helfer und Linus Baumschlager – Vorlesung 10/25
Im Spiegel des Anderen
„Der Junge im Taxi“ von Sylvain Prudhomme – Textwelten 10/25
Die Front zwischen Frauenschenkeln
„Der Sohn und das Schneeflöckchen“ von Vernesa Berbo – Literatur 10/25
Alpinismus im Bilderbuch
„Auf in die Berge!“ von Katja Seifert – Vorlesung 09/25
Keine Angst vor Gewittern
„Donnerfee und Blitzfee“ von Han Kang – Vorlesung 09/25
Roman eines Nachgeborenen
„Buch der Gesichter“ von Marko Dinić – Literatur 09/25
Süß und bitter ist das Erwachsenwerden
„Fliegender Wechsel“ von Barbara Trapido – Textwelten 09/25
Geteilte Sorgen
„Lupo, was bedrückt dich?“ von Catherine Rayner – Vorlesung 08/25
Augen auf Entdeckungsreise
„Jetzt geht’s los!“ von Philip Waechter – Vorlesung 08/25
Erste Male zwischen den Welten
„Amphibium“ von Tyler Wetherall – Literatur 08/25