Systemsprenger
Deutschland 2019, Laufzeit: 125 Min., FSK 12
Regie: Nora Fingscheidt
Darsteller: Helena Zengel, Albrecht Abraham Schuch, Gabriela Maria Schmeide
>> www.systemsprenger-film.de/
Dokumentarisch anmutendes Pädagogik-Drama
Marsch durch die Institutionen
„Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt
Ein Schreien, ein Toben, dann färbt sich die Leinwand blutrot. Es folgt eine Explosion der Gewalt. Doch „Systemsprenger“ ist kein Horrorfilm, kein Thriller oder Gangsterepos. Es ist ein Film über ein neunjähriges Mädchen, das nirgendwo hinzupassen scheint:
Benni hat schon alles hinter sich – Pflegefamilie, Heim, Sonderschule. Benni gilt als schwer erziehbar. Mehr noch: Für ein Kind wie sie wird intern der Begriff „Systemsprenger“ verwendet. Weil sie das System der Jugendhilfe an seine Grenzen führt. Benni ist gerade wieder in ein neues Heim gekommen. Es ist nur ein weiterer Ort in einer langen Odyssee. Angefangen hat alles mit einer überforderten Mutter. Einer ihrer wechselnden Stiefväter hat sie bei ihren Wutausbrüchen im Schrank eingesperrt. Bei einer Pflegefamilie konnte sie für eine Zeit lang die Zuwendung und die Liebe erfahren, die sie sich so sehr von ihrer Mutter wünscht. Die zeigt sich jedoch komplett hilflos im Umgang mit ihrer Tochter und deren Wutausbrüchen. Andererseits macht sie ihr immer wieder Hoffnung, zu ihr zurückkehren zu können. Doch das ist zurzeit völlig utopisch.
Im neuen Heim trifft Benni auf den Schulbegleiter Micha, ein Anti-Gewalttrainer, der sich nun in einer 1:1-Betreuung im sie kümmern soll. In der Intimität, die zwischen den beiden entsteht, lernt Micha Bennis zarte Seiten kennen, ihre Bedürfnisse und ihre Not. Er fasst einen Plan: Ein gemeinsamer Trip in eine einsame Hütte im Wald – weit weg von jeglicher Ablenkung – soll Benni helfen, zu sich selbst zu finden und sich ihrer Hilflosigkeit zu stellen, auf die sie bislang nur mit Gewaltausbrüchen reagiert. Micha stellt klare Regeln auf und zeigt Härte gegenüber Benni, er nimmt sich zugleich aber auch Zeit für sie. Das spürt Benni, und genau das gibt ihr die Sicherheit, die sie im System zwischen Jugendamt, Heim und ihrer Familie trotz der Bemühung aller Beteiligten nicht spürt. Denn wenn sie nicht entsprechend den Regeln funktioniert, dann hält sie das System nicht, sondern schickt sie in die nächste Institution, von einer Bezugsperson zur anderen. Oder noch schlimmer: sanktioniert. Notfalls mit Zwangseinweisung und Medikamenten. Da hat das System schon lange aufgegeben, wenn eine Neunjährige zugedröhnt an ein Bett geschnallt wird.
In Bezug auf das Alter des Kindes ist die Geschichte in der Realität sicher eine große Ausnahme. Xavier Dolan widmete sich 2014 mit „Mommy“ einem ähnlichen Schicksal, da ist der schwer erziehbare und gewalttätige Junge einer alleinerziehenden Mutter aber 15 Jahre alt. Regisseurin Nora Fingscheidt stieß bei einer früheren Filmrecherche auf den inoffiziellen Begriff Systemsprenger, als eine 14-Jährige in einem Haus für obdachlose Frauen einzog, weil das Jugendamt und alle anderen aufgegeben hatten. Die sehr zwiespältigen Gefühle, die Fingscheidt bei dem Thema empfand, spiegelt ihr Film. Da ist einerseits ein Kind, das einem anderen den Kopf auf den Tisch haut, dass es nur so blutet. Das sich der Schule und dem Lernen verweigert, das eigentlich fast nie kooperieren will. Das auf der anderen Seite aber eine traumatische Kindheit erfahren hat, die es erst hierhin gebracht hat. Benni bringt eine beeindruckende Energie auf, um ihr Ziel zu erreichen, wieder bei der Mutter leben zu können. Nur setzt sie völlig ungeeignete Mittel ein.
„Systemsprenger“ begleitet Bennis Marsch durch die Institutionen mit einem scheinbar dokumentarischen Blick. Der Film ist stets bemüht, in seiner Darstellung eine Balance aufrecht zu erhalten. In den Helfern spiegelt sich gleichermaßen der Wunsch zu helfen als auch die Überforderung. Ähnlich ist es bei der Mutter, die so gar nicht mit der Situation klarkommt und eigentlich immer das Falsche tut. Doch auch ihre Not spiegelt der Film. Und nicht zuletzt ist da Benni, deren zartere Seiten Empathie wecken, deren wildere auch dem Zuschauer ordentlich zusetzen. Denn demonstrativ gebrochen wird der scheinbar dokumentarische Tonfall in den Wutausbrüchen, in denen der Film in die Wahrnehmung der kleinen Protagonistin kriecht und mit all ihrer Energie die Aggressionen über dem Kinozuschauer ausschüttet, so wie sie über die meist hilflosen Erwachsenen im Film hereinbrechen.
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