Köln ist eine Stadt voller Geschichten. Man muss nur hinter die modernen Fassaden schauen, und schon offenbaren sich unglaubliche Biographien. Mitunter stehen sie auch noch, die Fassaden, wie etwa die des Gesundheitsamts am Neumarkt. Dort produzierte die Firma Bing & Söhne vor 140 Jahren Seidenbänder. Kein Hut und keine Corsage kam damals ohne Seidenbänder aus, ein unerhört einträglicher Artikel. Die Bings waren eine wohlhabende Familie jüdischer Abstammung, die mit zwei Söhnen und einer Tochter auf der Hohestraße wohnte.
Die Historikerin Hanka Meves widmete sich dem Leben der Tochter, Maria Bing. Das Material zum Leben dieser ungewöhnlich begabten Musikerin entdeckte sie in einem großen Briefkonvolut, das in der Zürcher Zentralbibliothek lagert. Maria heiratete den Chemiker Albert Herz, folgte ihm nach Bradford, eine damals prosperierende Stadt der britischen Textilindustrie, gebar vier Kinder und begann, erste Kompositionen zu schreiben. Als die Familie 1914 zu einem Besuch nach Deutschland kam, brach der Erste Weltkrieg aus. Die Familie konnte nicht mehr zurück und stand vor dem Nichts. Albert starb bald an der Spanischen Grippe. Trotz der vier Kinder gab Maria das Komponieren nicht auf. Sie veröffentlichte unter dem Namen Albert Maria Herz. Eine geniale Idee, denn einem vermeintlich männlichen Komponisten war die Musikwelt bereit, Aufmerksamkeit zu schenken. In die Zeit der zwanziger und frühen dreißiger Jahre fallen ihre großen Erfolge, als ihre Kompositionen nicht nur im Gürzenich Orchester in Köln, sondern auch in Berlin, München, Budapest, Stockholm und im Rundfunk gespielt wurden. Sie muss sie nach England emigrieren und siedelt später in die USA über.
Einen packenden Roman voller Anekdoten entwirft Hanka Meves aus diesem Stoff, den sie aus der Perspektive von Franzi, einer erfundenen Freundin von Maria, erzählen lässt. Da Franzi in Deutschland bleibt, entwickeln sich neben der Freundschaftsnähe auch immer wieder weltanschauliche Spannungen, die der Geschichte Dynamik verleihen. Vor allem beweist der Roman, wie lohnend es ist, die verdrängten jüdischen und die verschwiegenen weiblichen Schicksale aus der Vergangenheit ans Licht der Gegenwart zu holen.
Hanka Meves: Die Komponistin von Köln | Emons Verlag | 288 Seiten | 14 Euro
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