Autobiografische Comics hatten in den letzten Jahren Konjunktur. Aber nicht alles, was veröffentlicht wurde, war von Relevanz. „Stiche“ von David Small hingegen beeindruckt mit einer erschütternden Geschichte: Der sechsjährige David ist kränklich. Sein Vater – Radiologe inmitten der Atom-Euphorie der 50er Jahre – klärt gerne mit Röntgenstrahlen den Befund ab. Einige Jahre später hat David Krebs, aber keiner sagt es ihm. Small erzählt eine tragische Familiengeschichte kühl in schemenhaftem Schwarz-Weiß-Aquarell (Carlsen). Marisa Acocella Marchetto schlägt in ihrer autobiografischen Krebserfahrung einen anderen Ton an. Die Glamour-Reporterin in New York lebt ein leichtes Leben, in dem höchstens die Entscheidung für den richtigen Lippenstift ins Drama mündet. Als sie erfährt, dass sie Krebs hat, bricht ihre Welt zusammen. Doch als „Cancer Woman“ führt sie mit viel Humor und knallbunten Zeichnungen vor, wie man der Krankheit mit Lebenswillen Paroli bieten kann (Atrium). „Reisen zu den Roma“ ist eine Comicreportage. Wie bereits in „Der Fotograf“ haben Emmanuel Guibert und Frédéric Lemercier die Geschichte eines Fotoreporters mit einem Medienmix aus Zeichnungen und Fotos erzählt. Alain Keler reist mehrfach zu den Roma in Osteuropa, ihren Dörfern, ihren Lagern. Ungeschönt und unpathetisch schildert er ihr karges Leben (Edition Moderne).
Mit „Der Staub der Ahnen“ entführt uns Felix Pestemer in den faszinierenden Totenkult Mexikos. Anhand der tragischen Geschichte einer Familie entfaltet er einen das letzte Jahrhundert umspannenden Reigen lebender und toter Menschen. Die in schwarzweißen und farbigen Zeichnungen erzählte Geschichte schwankt zwischen makabren Ereignissen, die beinahe an Thomas Ott erinnern, und surrealer Fantastik. Ein erstaunliches Debüt (avant-verlag). „Ich habe Adolf Hitler getötet“ von Jason ist ebenfalls garantiert nicht autobiografisch: In einer Welt, in der der Beruf des Auftragskillers boomt, wird ein solcher mit einer Zeitmaschine ins Jahr 1938 geschickt, um Hitler zu töten. Etwas geht schief, und anstelle des Killers kommt Hitler zurück. Was wie Science Fiction mit Historien-Touch anmutet, entpuppt sich als ergreifende Liebesgeschichte. Jason erzählt wie immer im lakonischen Tonfall – ganz wunderbar (Reprodukt).
Die ersten beiden Bände der Serie „Koma“ von Pierre Wazem und Frederik Peeters entführen uns in eine fremde und seltsame Welt: Ein Mädchen und sein Vater sind in einer futuristischen Stadt Schornsteinfeger. Die Mutter ist tot, das Mädchen hat Ohnmachtsanfälle mit Visionen einer von düsteren Wesen bevölkerten Unterwelt. Eines Tages trifft sie unterhalb der Schlote tatsächlich auf diese Welt (Reprodukt). Auch Literaturadaptionen sind zurzeit etwas inflationär. Mit „In derStrafkolonie“ von Sylvain Ricard und Maël ist Kafka wieder an der Reihe. Die kantigen Zeichnungen entsprechen der Kühle der bekannten Vorlage. Ob das Grauen grausiger wird, wenn man es bebildert, lässt sich schwer sagen. Die sehr am Original orientierte Adaption ist durchaus gelungen (Knesebeck). Larry Marders „Bohnenwelt“ ist in der Comicwelt einzigartig. Dieses Universum erinnert höchstens noch an die französische Zeichentrickserie „Die Shadoks“. Die Bohnenwelt ist ein in sich geschlossenes Ökosystem, das zwar surreal anmutet, aber eine innere Logik aufweist. Der Baum O'Ma'Pa, die Bohnen, die Schädelschicht, das Kau oder der Stänkel – all das ist in einem Gleichgewicht. Wird das einmal gestört, steht die Bohnenwelt vor einem neuen Abenteuer (Ventil).
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