Jeden Tag werden Milliarden Bilder geknipst. Niemand schaut sie an, niemand spricht über sie. Man nimmt sie hin als seien sie selbst ein Stück Realität. Im Zeitalter der größten Bildproduktion, wird scheinbar am wenigsten kritisch über Bilder nachgedacht. Betrachten wir jedoch eine Fotografie in Ruhe, dann schaut sie zurück. Und damit beginnen die Fragen. „Das Foto schaut mich an“ nennt die Schriftstellerin Katja Petrowskaja ihren Band mit Bildbetrachtungen, die sie über Jahre in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlichte. 1970 in Kiew geboren und seit 23 Jahren in Berlin lebend, ist sie eine ideale Zeitzeugin für die Tragödie in der Ukraine, die ihren Anfang ja nicht erst im Februar mit dem russischen Überfall nahm.
Katja Petrowskaja reflektiert über Fotografie, indem sie ihr eigenes Leben in ihr spiegelt. Das kann das Foto einer verdorrten Pflanze in Tschernobyl oder das Gesicht eines ukrainischen Bergarbeiters sein. Auf einem Kinderbild von sich entdeckt sie hinter dem Lachen der Familie das Leid der politischen Unterdrückung während der Sowjetzeit. Sie spekuliert darüber, was uns die Bilder von der Welt zeigen. Fotografien erzählen nicht, sondern sie regen zum Erzählen an. Petrowskajas Blick ist radikal subjektiv, darin liegt der Reiz ihrer Texte, aber mitunter auch ihre Blindheit. Betrachtet sie etwa die Fotografien von Dieter Keller, einem Soldaten der Wehrmacht, der während des Zweiten Weltkrieges in der Ukraine Tod und Verwüstung fotografierte, dann entgeht ihr der Appell, den die Veröffentlichung dieser Bilder heute auslöst. Denn unwillkürlich fragt man sich, wer diesen Horror zu verantworten hat, und ist direkt in Deutschland.
Dafür erinnert sie aber auch an den Aktionskünstler Petr Pavlensky, einen Märtyrer unserer Tage. Auf dem dazugehörigen Bild ist Pavlensky vor dem brennenden Tor der Lubjanka zu sehen, dem Foltergefängnis des russischen Geheimdienstes, das er angezündet hat. Petrowskaja spricht über Fotografien der Ethnologen oder das Bild einer Wolke. Sie erzählt von Künstlerinnen wie Maja Deren oder Francesca Woodman. Letztlich ist es immer das Vergehen der Zeit, das sich als zentrales Thema in die Betrachtung der Fotografien hineindrängt. Mit dem Nachdenken über die Bilder verwandelt sich der stille Moment der Fotografie in eine sprechende Realität.
Katja Petrowskaja: Das Foto schaut mich an | Suhrkamp Verlag | 256 S. | 25 €
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