Es braucht seine Zeit, bis man in Leben ankommt. Instinktiv beginnt man zu spüren, dass das mit dem freien Willen so ’ne Sache ist. Was man auch tut, irgendwie wird man doch nur hin und her gestoßen. Von wem oder was auch immer. Die eigenen Aktionen verkommen zu plumpen Reaktionen. Ein Bewusstsein von Machtlosigkeit wird zum stillen Wegbegleiter. Doch wie damit umgehen?
Sich der Leere ergeben?! Schon beim bloßen Anblick von Cornelia Wilhelms fotografischen Momentaufnahmen läuft einem ein Schauer über den Rücken. Good old Coney Island, N.Y., 1986, „Shot By Both Sides“ [Bentelli].Desillusionierender kann ein Vergnügungspark kaum sein. Vergessen, untergegangen im Grau-in-Grau der Realität. Doch trotz der bleiernen Tristesse: Seine Protagonisten leben, leben weiter, überleben zumindest. Das sollte einem zu denken geben. Die Frage ist wie? Und die Wichtigkeit des Wie?
Wegballern?! Der Klassiker zwischen Mitte Zwanzig und Mitte Dreißig. Wie bei Laura und Tyler, die von Party zu Party, von Rausch zu Rausch taumeln, als wollten sie dem spießigen Leben auf immer und ewig den halbstarken Mittelfinger zeigen. Zumindest, wenn es nach Tyler ginge, die ihre Seelenverwandte an den erfolgreichen Konzertpianisten Jim zu verlieren droht. Emma Jane Unsworths „Biester“ [MetroLit] stecken in einem echten Dilemma. Immer häufiger werden ihre unverblümten Eskapaden von bitteren Geistesblitzen durchzuckt. Das endgültige Ende der Pubertät naht …
Augen zu und durch?! Bis zum bitteren Ende!? Im Moloch der gefallenen Engel, im Schatten von Glanz und Glorie Hollywoods ringen die unvermeidlichen gescheiterten Randgestalten dem Leben mit Chrystal Meth ein paar letzte leuchtende Momente ab, während sich von Norden ein infernalisches Grindhouse-Vamp-Duo à la Robert Rodriguez nähert. Als sich aus Frankreich auch noch eine U.S.-Version von Hermes Phettberg in Bewegung setzt, um mit „Black Neon“ [Heyne] den einzig wahren Film über die echten USA zu produzieren, gerät selbst das abgef**kteste Drogenphlegma ins Wanken. Gnadenlos diabolisch. Tony O'Neill weiß, wovon er schreibt.
Abkapseln?! Einen undurchdringlichen Panzer zulegen?! Harry Cubs, Katja Eichingers misanthropischer Jazz-Punk-Saxophonist, für sein „Amerikanisches Solo“ [MetroLit] von Schwarz und Weiß zum absoluten Kult-Star erhoben, hält es da ganz mit seinen Schlangen: nach getaner Arbeit einrollen, Temperatur runterfahren und jeder verlogenen Herzlichkeit abschwören. Bis ihm eines Tages auf einem dunklen Fast-Food-Restaurant-Parkplatz eine unfassbar wohltönende Frauenstimme unter die Schuppen fährt …
Zähne zusammenbeißen?! Mitschwimmen?! Elyas ringt sich tatsächlich dazu durch, sein Jurastudium womöglich doch noch abzuschließen. Was hat es Vater und Onkel denn gebracht, dass sie von der Gewerkschaft verraten in vorderster Front bei Ford für die Rechte der türkischen Belegschaft gekämpft haben? Nüschte! Und jetzt nach der Wende haben sie auch noch ihr Kreuzberg verloren. Selbstzerstörungs-, Selbstauflösungstendenzen machen sich breit. Der Geist richtet sich gegen einen selbst. In stummer Wut und haltloser Trauer zieht sich Deniz Utlus Protagonist in sein Aquarium zurück, während draußen die Fische vorbeiziehen. Bis die ebenso traurige Aylin in sein Leben tritt – und mit ihr Verständnis, Empathie als letzter Halt für „Die Ungehaltenen“ [Graf]. Und ein Anfang.
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