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Lydia Davis
Foto (Ausschnitt): Theo Cote

Lektüre für alle Tage

29. August 2024

Lydia Davis‘ Geschichtensammlung „Unsere Fremden“ – Textwelten 09/24

Es gibt Bücher, die liest man nicht von der ersten bis zur letzten Seite hintereinander weg. Das wäre zu schade, auch Pralinen verschlingt man nicht hastig wie eine Tafel Schokolade. Lydia Davis, Übersetzerin aus dem Französischen und dem Deutschen, lebt zwar an der amerikanischen Ostküste, besitzt aber immer ein Auge für die kulturelle Welt Europas. Über Jahre taucht sie ab, sammelt Texte und Begebenheiten und ist nun wieder mit einem prallen Kompendium von Stories präsent, für das sie in den USA schon üppig mit Literaturpreisen bedacht wurde. „Unsere Fremden“ enthält Texte, die sich über 20 Seiten erstrecken, und andere, die aus nicht mehr als zwei knappen Sätzen bestehen. Nicht alleine deshalb lohnt es sich, dieses vom Droschl Verlag schön gestaltete Buch mit sich zu führen, sei es im Rucksack oder auf der Rückbank des Autos. Man kann es irgendwo aufschlagen und findet sofort eine Anekdote, eine alltägliche Szene oder einen Gedanken, der manchmal aber nicht immer in einer Pointe mündet.

Stets handelt es sich um Begebenheiten eines Alltags, der pur ohne jeden Glamour daherkommt. Da werden Ehepaare belauscht, Gäste im Restaurant beäugt, es gibt Verwechslungen oder Gespräche unter Freundinnen, dann wieder Erlebnisse im Zug oder literarische Anekdoten. Manche bieten treffsichere Gags, andere verrinnen leise und gerade die halten sich lange im Gedächtnis. Aber selbst wenn Davis von Lesereisen berichtet, kann man nie so ganz sicher sein, ob sie nun die Person ist, die hier erzählt, oder jemand anderes. Denn jede dieser Prosaminiaturen könnte auch aus anderer Perspektive erzählt sein und dann würde man über die Person lachen, die hier scheinbar die Deutungshoheit besitzt. Verbindendes Element aller Geschichten bleibt das Beobachten. Beispielhaft dafür ist die Titelgeschichte „Unsere Fremden“. Die „Fremden“ sind nämlich ihre Nachbarn. Manche bestehlen sie, aber sie selbst spielt ebenfalls mit dem Gedanken, eine Nachbarin zu bestehlen. Man kann sich halt auch selbst fremd sein. Reich an Überraschungen sind diese skurrilen, humorvollen und nicht selten weisen Geschichten schon allein durch ihren ironischen Ton, der stets auf einen doppelten Boden verweist. 

Lydia Davis: Unsere Fremden | A. d. Amerikanischen von Jan Wilm | Droschl Verlag | 312 S. | 26 €

Thomas Linden

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