Schneeflocken purzelten herab, als das Kulturhauptstadtjahr im Januar 2010 feierlich eröffnet wurde. Die fröstelnden Temperaturen bescherten auf Zollverein eine echte Wintermärchen-Kulisse. Herbert Grönemeyer nuschelte seine offizielle Hymne des Umbruchs mit dem Refrain „Komm zur Ruhr“. Aber klang es nicht nach: Komm zur Ruh'? Brachte „Ruhr 2010“ keine Aufbruchstimmung?
Zum zehnjährigen Jubiläum lässt sich jedenfalls bilanzieren, dass sich feste Stützpfeiler der Tanzlandschaft im Ruhrgebiet entwickelt haben. Darunter zählt natürlich auch das bereits 2002 gegründete PACT Zollverein, wo in den letzten Jahren zahlreiche renommierte Choreografen und Tänzer auftraten.
Den Jahresauftakt 2020 übernimmt Phia Ménard, eine Künstlerin, die sich mit den Elementen auskennt. Eis, Wasser und Luft gehören zu den Ingredienzien ihrer Werke. Sprichwörtlich neuen Wind bringt Ménard zusammen mit der Compagnie Non Nova für ihre kindgerechte Performance auf die Bühne. In „L’après-midi d’un foehn“ lassen sie aufgeblasene Figuren flattern, die wie Tüten aussehen. Alles angetrieben von einem großen Gebläse, während zwischen den phantastischen Wirbelwinden eine Dirigentin den Klangteppich arrangiert.
Denn leitmotivisch untermalt Claude Debussys Werk diese Choreografie von Ménard/Compagnie Non Nova. Und das klingt bereits im Titel an: Der französische Komponist ließ sich einst vom Dichter Stéphane Mallarmé zu einem seiner Hauptwerke inspirieren, das 1894 in Paris Uraufführung feierte: „Prélude à l’après-midi d’un faune“, zu Deutsch: „Vorspiel zum Nachmittag eines Faunes“.
Faun? Genau, jener altitalische Gott der Natur und des Waldes, der später als Beschützer der Bauern und Hirten sowie ihrer Äcker und ihres Viehs galt. Wer nicht dem Bildungsbürgertum entstammt, muss keine Bange vor der Bühnen-Adaption haben. Denn für diesen Choreografie-Nachmittag wurde ja der Faun gestrichen und durch ein zeitgemäßes, profanes Wort ersetzt: foehn? Der Google-Übersetzer spuckt folgende Übersetzung aus: Föhn.
Vom Gott zum Haartrockner? Luft durchströmt die marionettengleichen Tütenfiguren, was zu unerwarteten Begegnungen und Bewegungen führt, an denen das PACT-Publikum fantasievoll mitspinnen kann. Nicht nur für die Kleinsten geht es luftig ins Jubiläumsjahr von Ruhr 2010. Beim Tanz kommt an der Ruhr keiner zur Ruh'.
„L’après-midi d’un foehn“ | 25. & 26.1. je 15 Uhr | PACT Zollverein Essen | 0201 812 22 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Begegnung mit dem Anderen
Das El Cuco Projekt zeigt das lauernde Tier in uns – Tanz in NRW 12/20
Was hält uns zusammen?
Das Festival Urbäng! betrachtet Familie, Männlichkeit und Kapitalismus – Tanz am Rhein 10/20
Plastik hat mir das Leben gerettet
Choreografin Bibiana Jiménez brilliert mit weiblichen Themen – Tanz am Rhein 09/20
Die vitale Versehrte
„Fractura“ erzählt von den Brüchen im Leben einer Tänzerin – Tanz am Rhein 08/20
Ich hasse dich – heirate mich!
Stößels Komödie | Fr 14.8. u.w.T.
Was heißt hier lebendig?
Tanz-Klassiker „Le sacre du printemps“ am Opernhaus – Bühne 04/20
Das Sofa als Erkenntnisinstrument
Tanzfestival Into the Fields verwandelt Bonn in ein Bewegungslabor – Tanz am Rhein 04/20
„Als echter Künstler sollte man weinen können“
Aalto-Ballettintendant Ben Van Cauwenbergh über die „Drei Schwestern“ – Tanz an der Ruhr 04/20
Postkoloniale Geister
„Ist das ein Mensch?“ von kainkollektiv im Ringlokschuppen Ruhr – Tanz an der Ruhr 03/20
Die Schule tanzend aus den Angeln heben
Silke Z produziert neue Choreografie in deutschen Schulen – Tanz am Rhein 03/20
Amerikanerin am Rhein
Emily Welther meistert auch schwierige Themen des Tanzes – Tanz am Rhein 02/20
Therapie des Hörsinns
„The Listeners“ von Alma Söderberg/Cullberg im Pact Zollverein – Tanz an der Ruhr 02/20
Dem Unberechenbaren die Türe öffnen
Barbara Fuchs‘ erfrischender Umgang mit dem Familiengebilde – Tanz am Rhein 01/20
Gott tanzt
Das Festival tanz.tausch in Köln – Tanz am Rhein 12/19
Das erregende Moment der Bewegung
Festival Tanzrauschen in Wuppertal – Tanz in NRW 11/19
Nicht reden, sondern machen!
Festival „Urbäng!“ bietet starkes Programm – Tanz am Rhein 10/19
Verausgabung als Ereignis
Die Ruhrtriennale geht beim Tanz bis zum Äußersten – Tanz in NRW 09/19
Kalte Leidenschaft
Sasha Waltz blickt illusionslos auf die Menschheit – Tanz am Rhein 08/19
Bitter und schön zugleich
Die Batsheva Dance Company aus Tel Aviv zu Gast in Köln – Tanz am Rhein 07/19
Ein zweiter Körper
„Uncanny Valley“ von Stefan Kaegi und Thomas Melle – Tanz an der Ruhr 07/19