Der Winter naht. In Sieben-Meilen-Stiefeln. Die Temperaturen auf Talfahrt. Regen, Blitzeis, Schneematsch. Sintflutartig öffnet die frostige Jahreszeit als Metapher ihre Schleusen über dem ganzen Land. Eigentlich sind sie kaum mehr zu ertragen, die Horrorszenarien, die tagaus, tagein über die Mattscheibe flimmern, die Headlines der Gazetten dominieren, unseren kleinen, beschaulichen Alltag fluten. Doch: Der Hochwasserschutz kostet, speziell in akut gefährdeten Regionen, bei jeder Hausratsversicherung extra. Wir werden uns also wohl oder übel mit den finsteren Aussichten auseinandersetzen müssen. „Jetzt und auf Erden“ (Heyne, 333s, € 9,99), so sieht's aus, das ist die Lage. Die Kohle reicht vorn und hinten nicht; zumindest nicht, um den bis dato gewohnten Lebensstandard aufrechtzuhalten. Auch nicht bei Jim Thompsons Alter Ego im stark autobiografisch gefärbten, 1942 und nun erstmals auf Deutsch erschienenen Debütroman des legendären Hard-Boiled-Autoren (u.a. „The Getaway“). Der Körper malade, der Job eine reine Existenzerhaltungsmaßnahme sieht „Dilly“ Dillon auch seinen letzten Funken Kreativität als Schriftsteller verfliegen. Gesellschaft und Familie fressen ihn auf. Sein ganzes Trachten: aufrecht im Untergang. In grandioser Nüchternheit; stilistisch.
Mitunter kann man allerdings gar nicht anders, als sich im Angesicht der abgrundtiefen Alltagsgrotesken draußen vor der Tür ein Lächeln abzuringen. In zartfühlendem Sarkasmus, wie er aus Klaus Bittermanns „Kreuzberger Szenen“ perlt: „Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol“ (Tiamat, 160s, € 14). Lakonisch, doch scharfen Blickes seziert der Autor und Verleger die Hipster-Armee aus Gitarren bewehrten Studis, berucksackten Touris und marodierenden Fahrradhelm-Vandalen, die das einstige Randfiguren-Idyll des Graefe-Kiez' kurzerhand in einen Truppenübungsplatz verwandeln und die einheimischen Faktoten in letzter Instanz in die Arme der RAF („Rest-Alkohol-Fraktion“) treiben. / Eine illustre Zufluchtsinstitution, in der auch Serhij Zhadan eine zotige Figur abgeben würde. Allein: Sein quertreibendes Bummelantentum lässt ihm keine Ruhe, zwingt ihn nicht nur durch die Unorte Berlins, sondern auch in die Sackgassen und Unkenpfuhle Wiens und Charkiws. Sein Mitbringsel: die herrlich politisch inkorrekte Storyssammlung „Big Mac“ (Suhrkamp, 226s, € 14), in deren süffisant-hintersinnigem Bermuda-Dreieck man sich köstlich-giftig verlustieren kann.
In krassem Gegensatz dazu steht Michaela Falkners Kinderrevolte „Du blutest, Du blutest“ (Residenz, 118s, € 19,90). In einer avantgardistisch-radikalen Prosalyrik lässt sie das Trümmerszenario unserer Gesellschaft in der naiven Unschuld des zwölfjährigen Ivan kulminieren. Desaströse Fragmente, wie sie uns aus unserem Alltag leider nur allzu bekannt sind, die auf „bestialische“ Art soziale Gewalt in jugendliche Gegengewalt umschlagen lassen – und uns eigentlich auf die Palme, statt in den ofenwarmen Kokon unserer privaten Refugien treiben müssten. / Miron Zownir sei Dank, bereitet Birol Ünels Stimme dem aufkeimenden Unkraut selbstgefälligen Phlegmas allerdings direktemäng, und das schneidend-scharf den Garaus. Schonungsloser Social Beat, der in seiner expliziten Prosa keinerlei Tabus kennt, aus der Feder eines der verstörendsten Underground(foto)dokugrafen, in seiner Garstigkeit einzigartig performt von einem so begnadeten wie unbändigen Schauspieler und obendrein kongenial flimmernd und flackernd intoniert vom sensibel agierenden Klangwerker FM Einheit. Düster-dräuende Albtraumszenarien zwischen höllischem Himmel und himmlischer Hölle, die einem den Schlaf rauben. Nur: Wer, bitte schön, sind denn die wahren „Parasiten der Ohnmacht“ (Deutsche Grammophon, cd+dvd, € 18,99)?!
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Lesewetter
Wortwahl 08/12
Namhafte Begleiter
Wortwahl 07/12
Lebendige Fiktion
Wortwahl 06/12
Life’s a Bitch
Wortwahl 05/12
Braindead
Wortwahl 04/12
Ententhusiasmiert
Wortwahl 03/12
In bester Erinnerung
Wortwahl 02/12
Christmas Hotel
Wortwahl 01/12
Save me a place
Wortwahl 12/11
Bodenlos?
Wortwahl 10/11
Krank?
Wortwahl 09/11
Egoshooter
Wortwahl 08/11
Die Liebe und ihre Widersprüche
„Tagebuch einer Trennung“ von Lina Scheynius – Textwelten 11/25
Inmitten des Schweigens
„Aga“ von Agnieszka Lessmann – Literatur 11/25
Mut zum Nein
„Nein ist ein wichtiges Wort“ von Bharti Singh – Vorlesung 10/25
Kindheitserinnerungen
„Geheimnis“ von Monika Helfer und Linus Baumschlager – Vorlesung 10/25
Im Spiegel des Anderen
„Der Junge im Taxi“ von Sylvain Prudhomme – Textwelten 10/25
Die Front zwischen Frauenschenkeln
„Der Sohn und das Schneeflöckchen“ von Vernesa Berbo – Literatur 10/25
Alpinismus im Bilderbuch
„Auf in die Berge!“ von Katja Seifert – Vorlesung 09/25
Keine Angst vor Gewittern
„Donnerfee und Blitzfee“ von Han Kang – Vorlesung 09/25
Roman eines Nachgeborenen
„Buch der Gesichter“ von Marko Dinić – Literatur 09/25
Süß und bitter ist das Erwachsenwerden
„Fliegender Wechsel“ von Barbara Trapido – Textwelten 09/25
Geteilte Sorgen
„Lupo, was bedrückt dich?“ von Catherine Rayner – Vorlesung 08/25
Augen auf Entdeckungsreise
„Jetzt geht’s los!“ von Philip Waechter – Vorlesung 08/25
Erste Male zwischen den Welten
„Amphibium“ von Tyler Wetherall – Literatur 08/25