Heissa: Der Baum geschmückt, der Sack noch leer. Dabei stehen Josef und seine hochschwangere Frau wieder mal fast auf der Schwelle zum vorsintflutlichen Kreißsaal Betlehems. Scheint, als sei der Mensch nicht nur bemüßigt, an seinen Fehlern festzuhalten, sondern sie regelrecht liebzugewinnen. So sollen auch in diesem Jahr die „Last-min-X-mas-Tipps“ nicht fehlen; inspiriert von Abel Ferraras liebevoller Film-Hommage an das „Chelsea Hotel“ (Koch), die nun in einer Premium Edition mit schwelgerischem Bildband vorliegt. Stockwerk für Stockwerk durch Epochen und Räume des legendären Horts der Muse und Muße der New Yorker Bohème.
1st floor: die Lobby, in der sich so prächtig schwadronieren ließe über „Das einzig wahre Handbuch für Agenten“ (Heyne), in dem H. Keith Melton & Robert Wallace die 50er Jahre-Zauberkiste der CIA aufleben lassen. Oder wüst debattieren, über den nicht nur grundsätzlich fragwürdigen US-Justizmord an den italienischen Outlaws „Sanco und Vanzetti“ (zuKlampen), so detailliert wie spannend aufgedröselt von Helmut Ortner. Und wenn dann noch ein wenig wahrer Reportagen-Rock'n'Roll gefragt sein sollte, rufen wir Hunter S. Thompson an die Rezeption, der mit seinem wild wuchernden Gonzo-Journalismus in „Der Fluch des Lono“ (Heyne) dem Honolulu-Marathon seinen eigenen Spirit einhaucht. / 2nd-6th floor: ein Tummelplatz für die jungen Wilden. Hier werden die ganz Kleinen von Loes Riphagen auf das tierisch durchgeknallte „Tohuwabohu“ (Boje) vorbereitet, das ausbricht, sobald die Ordnungshüter das Haus verlassen – um ihnen daraufhin grandiose Kinderbuchklassiker wie Tomi Ungerers „Drei Räuber & Co.“ oder Roald Dahls „Willy Wonka et. al.“ in „Schatzkisten“-Dosis (Diogenes/Rotfuchs) zu verabreichen – auf dass sie sich alsbald mit Sebastian23 wohlpointiert in „albernster“ Poetry-Slam-Art bezüglich „Schwerkraft und Leichtsinn“ (WortArt) duellieren können, sich nicht scheuen, wie Thomas Melle in „Sickster“ (Rowohlt) auf famos-radikale Weise den Generationsgenossen ihre Beschränktheit in puncto Lebensfreiheit vor Augen zu führen oder à la Marc Greif den „Bluescreen“ (Suhrkamp) mit gewitzt anarchischen Diagnosen unseres Life-Designs zu illuminieren. / 7th-12th floor, wo sich die Crème de la Crème der zeitgenössischen Literatur anschickt, den unsterblichen, nicht zuletzt auf dem feinsinnigen Psychodrama „Zärtlich ist die Nacht“ (dtv) fußenden Ruhm eines F. Scott Fitzgeralds zu ernten, zumindest aber in die Fußstapfen eines Richard Mason zu treten, der mit „Suzie Wong“ (Union) eine betörend sinnliche Figur geschaffen hat, in der all seine Lebenserfahrung und Zeitgeistesgegenwärtigkeit kulminieren: angefangen bei Jeffrey Eugenides, der so fantasievoll wie souverän „Die Liebeshandlung“ (Rowohlt) der viktorianischen Prüderie in Zeiten grassierender Freizügigkeit aufblühen lässt.
Über den düster-dürstenden Hard-Boild-Crime-Autoren Ken Bruen, der sein Quasi-Alter-Ego „Jack Taylor auf dem Kreuzweg“ (Atrium) in den Infight mit seinen irischen Dämonen schickt, und den auf der Buchmesse für seine poetisch weise, Liebe und Tod heraufbeschwörende Winterreise „Der Schmerz der Engel“ (Piper) gefeierten Isländer Jón Kalman Stafánsson. Bis hin zu Haruki Murakami, der mit dem Abschluss der Trilogie „1Q84“ (Bd. 3, Dumont) beweist, dass er seine jazzige Leichtfüßigkeit sogar in einem dystopischen Korsett zu veredeln vermag. / Outdoor: Im Angesicht der Tatsache, dass im Zuge der Gewinnoptimierung mit Stanley Bards N.Y.-Appartementkomplex nun auch die letzten utopischen Refugien wegbrechen, muss natürlich auch zum Abschluss diesen Jahres wieder daran gemahnt werden, die rebellische Widerstandsfähigkeit mit einem Neujahrsgrillen à la Steven Raichlens „Planet Barbecue“ (ullmann) zu kultivieren. Rezeptvorschlag: Immobilien- oder Börsenhai mit angebratenem Zitronengras, Chillies und Ingwer in Bananenblättern. Musik: Ethan Hawkes „Chelsea Lullaby“ (s.o.).
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