Abpfiff: Schluss, Ende, Aus. Vorbei und vorüber. Das war's mit der Show. Die über 34 Spieltage unter Blut, Schweiß und Tränen aufrecht erhaltene Spannung bricht unvermittelt in sich zusammen. Gähnende Leere. Gut, man fällt nicht ins Bodenlose wie die Fans der Frankfurter Eintracht. Doch auch als leidenschaftlicher Anhänger (im besten Falle) fußballerischen Mittelmaßes mit tiefer Verwurzelung im Bodensatz der Liga, sieht man sich mit schlagartig einsetzenden Entzugserscheinungen konfrontiert, die allein – und das auch nur mangelhaft – durch blindwütigen Gerstensaftkonsum sowie lauthals konzertierte Vergegenwärtigung längst vergangener Ruhmesmomente kompensiert werden können.
Oder: Man versetzt sich anhand André Bawars Roadcomedy „Poeler Pokale“ (emons) in die Lage der Provinzkicker vom SC Ankerwinde Wismar, denen mitten im Sommerloch nicht nur der Platzwart, sondern auch ihre leidliche Trophäensammlung abhanden gekommen ist. Ohne viel Federlesen machen sich die drei Jensen-Brüder als zentrale Achse des Verbandsligisten auf den Weg, die gravierende soziopsychopathische Schieflage der Vereinsseele mit der Dingfestmachung des Raubmörders wieder gerade zu rücken. Ein auf so tumber wie eruptiver Einfalt basierendes Amusement, das a) sich auch mit ausgewachsenem Kater goutieren lässt, b) in seinen guten Momenten an die karg gesäten Höhepunkte der abgelaufenen Saison erinnert und c) in den weniger geistreichen Passagen – im besten Falle – für den eigenen Fanatismus und die darauf fußenden Beschränktheiten sensibilisert.
Aber: Wer will schon wissen, was sich im Schatten des emotionalisierenden Rampenlichts für biedere Alltagsdramen abspielt? Und doch sind es gerade die vielschichtigen Biografien glamouröser Gestalten, die sich in ihrer scheinbar widersinnigen Ambivalenz zu einem in jeglicher Hinsicht nebenwirkungslastigen Cocktail „aus Nektar und Wermut, Ambrosia und dem Gift eines Nachtschattengewächses“ verdichten. Kein Wunder, dass Michaela Karl ihre hingebungsvolle Schilderung des Lebens von Dorothy Parker, jener Gesellschafts- und Modekolumnistin aus den Roaring Twenties, deren scharfzüngige Ächtungen und Verfechtungen eine handzahme Papiertigerin à la Carrie Bradshaw („Sex and the City“) in die Arme der Bundesagentur für Arbeit treiben müssten, mit „Noch ein Martini und ich lieg unter dem Gastgeber“ (Residenz) überschrieben hat.
Immerhin: Soweit lässt es auch die beschwipste April nicht kommen; und das trotz all der dicken Scheine, die ihr der junge Araber Bassam – obgleich aus anderen Beweggründen – zuhauf vor die Füße wirft. Was die verführerische Stripperin allerdings nicht verhindern kann: dass während der lukrativen VIP-Nummer ihre dreijährige Tochter in die Hände des soeben aus dem Nachtclub hinauskolportierten Losers AJ gerät, was wiederum die kurzzeitigen Unpässlichkeiten ihrer sonstigen Babysitterin und Vermieterin Jean sowie des Security Guards Lonnie in ein neues Licht rückt. Verliefen all ihrer Leben eben noch parallel, so verheddern sie sich nun unter Andre Dubus‘ III Regie im „Garten der letzten Dinge“ (dtv) zu einem anrührenden, regelrecht ethnografischen Episodenroman, um doch unausweichlich ihrem Einzelschicksal entgegen zu steuern – mit einer Zwangsläufigkeit, die in den Bann zieht.
Fürderhin: Ein scheinbar alles miteißender Sog, der mit dem Tod des weiblichen Oberhaupts der Bigtrees auch den Alligatorenpark „Swamplandia“ (Kein & Aber) auf einer entrückten Floridainsel erfasst. Der „Häuptling“ leidet unter massiver Realitätsverklärung, der Sohn heuert bei der Konkurrenz auf dem „zivilisierten“ Festland an, während sich die pubertierende Schwester in einen 80 Jahre zuvor verstorbenen Geist verliebt. Allein die 13jährige Göre Ava stemmt sich in Karen Russells so fantasievollem wie packendem Comig-of-age-Roman mit dem aus letzter kindlicher Naivität geborenem Mut einer Archosaurier-Wrestlerin gegen den familiären Untergang. Ein Schelm, wer hierbei an seinen ach-so-traditionsreichen Fußballverein denkt.
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