Der aus Elberfeld stammende Armin T. Wegner war expressionistischer Dichter, Erzähler und Reiseschriftsteller, aber im Gedächtnis bleibt er ebenso als politischer Mensch. Dazu gehört auch ein Brief an Hitler gegen die Judenverfolgung. Zeitlebens verfolgte ihn daneben ein Thema, das in neuer Form im Mittelpunkt der diesjährigen Armin-T.-Wegner-Tage stand: Als Sanitätssoldat im Ersten Weltkrieg hatte er die Verfolgung und Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich miterlebt. Für die Opfer verwandte er sich bei der deutschen wie auch der US-amerikanischen Regierung, und mehrmals hielt er Vorträge mit eigenen Fotos dazu. Nun, 2019 – gibt es ein besonderes Ereignis für Freunde des Dichters und die Wegner-Gesellschaft: ein zuvor unveröffentlichtes Epos, das eine Verarbeitung in anderer Form ans Licht bringt: „Das armenische Totenlied“. Das imposante Alterswerk scheint Ergebnis eines langen Ringens.
In der Sophienkirche kam das Werk in Auszügen intensiv zur Vorstellung. Es sprach Bernd Kuschmann, seit Jahrzehnten großer Künstler des Wuppertaler Schauspiels. Hinzu trat ein eigens zum Text komponiertes musikalisches Werk: „Armenische Totenlieder“ von Volker Felgenhauer. Mit seinen fünf Sätzen wurde diese Uraufführung komplett gespielt vom Trio Cascades: Thomas Palm (Klavier), Katrina Schulz (Geige), Alexander Mrowka (Cello) intonierten vorab zudem Musik von Komitas Vardapet, der als Begründer der modernen klassischen Musik Armeniens gilt. „Kranich, bringst du mir Nachricht aus meiner Heimat?“, hieß es darin übersetzt; „ein Lied, das Armeniern sehr nahe geht“, bekannte Arlin Cakal-Rasch zu Beginn, die heute die Moderation übernommen hatte.
Ulrich Klan, Vorsitzender der Armin-T.-Wegner-Gesellschaft und selbst auch Musiker, erklärte das lange Ausbleiben der Publizierung damit, dass der Autor Jahrzehnte um die Verarbeitung gekämpft und letztlich einen Torso geschaffen habe, freilich von hoher Qualität. „Er hat sein Leben lang um Fassung gerungen.“ Bewusst unter Rückgriff auf die Doppelbedeutung – persönliche Gefasstheit wie auch künstlerische Gestalt. Klan gab dann eine Einordnung des Textes, auch in einem großen Studienband abgedruckt, der dieser Tage erscheint: „‚Aghet‘: Totenklage und Gedächtnis des Schreckens“ referiert unter anderem den Forschungsstand zum Verbrechen an den Armeniern, stellt künstlerische Verarbeitungen vor und fragt nach Möglichkeiten, wie Armenier, Türken und Deutsche gemeinsam gedenken und trauern können.
In seiner Einführung reflektierte Klan die Kunstform Gesang in ihrer Nähe zur Dichtung, und er gab Beispiele der Kulturgeschichte für „Modelle der Totenklage“ wie im Sufismus. „Wegner bedient eine Art ‚altertümlich-zeitlose‘ Sprache“, sagte Klan, „und eine zwar sehr einfühlende, dennoch allgemein-menschliche Sicht. Für ihn selbst, den Augenzeugen und Chronisten, sind inzwischen fast sechs Jahrzehnte vergangen seit seinem Erlebnis der ‚Austreibung der Menschheit‘, wie er den Genozid an den Armeniern nannte.“ Kuschmanns Vortrag gab davon dann einen starken Eindruck.
Das „Totenlied“ schien dann für den Autor nicht untypisch: Wegner war kein kühler Denker. Auch sein Verhältnis zum Sozialismus war zum Gutteil geprägt von Empfinden und Empörung. Zuweilen erweckte er auch bei besagten politischen Aktionen den Eindruck, Engagement vor präzise Reflexion zu setzen. Als er 1933 einen Brief an Adolf Hitler schrieb und mit Blick auf die Judenverfolgung flammend forderte: „Gebieten Sie diesem Treiben Einhalt!“, quittierte der linke Publizist Kurt Hiller ihm später, diese „Naivität“ sei „belachenswert“. Und angreifbar war auch sein Einsatz für die armenische Sache: Sein Bildvortrag enthielt sachliche Fehler. Nicht immer zeigten die Fotos das, was er ihnen gutwillig zuschrieb. Für Leugner der Verbrechen ein willkommener Schwachpunkt. „Poetische Berichterstattung“ heißt sein Vorgehen bei Professor Andreas Meier, dessen akribischer Kommentar im Band mit den Berichten auch in der Sophienkirche zu lesen war.
Was nun heute zum Vortrag kam, spiegelte offenbar einen ganz anderen Ansatz: von vorne herein subjektiv, selektiv, ergriffen und ergreifend. Da kristallisierte sich an einem Erlebnis in der armenischen Wüste immer wieder archaisch ein Menschheitsdrama heraus. Bernd Kuschmann folgte ganz dieser Tendenz zum Gewaltigen, ließ mal die drastischen Worte für sich wirken, um dann wieder die unverwechselbare Stimme für Klage, Anklage, fast Ekstase zu nutzen. Zum heroischen Drama wurde bei Wegner eine Szene, die man kühler auch drohendes Kriegsverbrechen nennen könnte: Soldaten kündigen die Vergewaltigung armenischer Frauen an, der diese sich durch kollektiven Selbstmord entziehen. Ob „neunundneunzig Jungfrauen“ dann eine historisch exakte Angabe war oder poetische Setzung, ist wohl bei solch einem Text ganz unerheblich.
Und noch zuvor erhebt ein Todeskandidat, unterm Galgen noch einmal die Stimme und singt: Dieses erste der vom Dichter so bezeichneten „Altarbilder“ ließe sich lesen als Variation über das Erzählen, wäre es nicht so grausam und eindringlich. Es mochte die Erinnerung an „Tausendundeine Nacht“ aufscheinen, wo ja Scheherezade, ebenfalls todgeweiht, dem persischen König so lange Geschichten erzählt, bis er sie am Ende leben lässt. Das aber ist dem Verurteilten bei Wegner nicht vergönnt: Das Todesurteil wird vollstreckt, übrigens unter den Augen seiner Söhne. Bei aller Skepsis über Dichtung und Wahrheit bei dem Elberfelder Zeugen und Literaten wurde klar: Bei Wegner ging es eben doch nicht um ein fernes Märchen – und das Leben, auch sein Erleben war allzu oft grausam.
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