„Ein bisschen gemein“ nennt Dana von Suffrin den Ansatz, für ihren Roman „Otto“ das Leben ihres Vaters zu nutzen. Die Schriftstellerin war zu Gast im katholischen Stadthaus am Laurentiusplatz. Klar wurde: Sie schildert eine Situation vor schrecklichem Hintergrund, nämlich der Schoah, und verbunden mit der Geschichte ihrer Familie. Doch das Zitat deutet schon an, dass es zumindest halb-fiktiv und keine Biografie sein will und die Nutzung der persönlichen Geschichte fast bedauert. Angenehm war, dass die Literaturwissenschaftlerin Dr. Luisa Banki stellte diese Lesart im Gespräch auch nicht ins Zentrum stellte.
Otto ist ein alternder jüdischer Familienvater und pflegebedürftig. Und er ist unleidlich – vorsichtig gesagt. Die Passagen, aus denen heute zu hören ist, machen ihn noch nicht ganz zum Despoten, doch nach übereinstimmenden Urteilen ist er nach Komplettlektüre genau dies. „Dumme Kuh“, ruft er Erzählerin Timna auch hier schon einmal hinterher – dabei ist sie seine Lieblingstochter.
Zu ihrer Haltung, dem Vater gegenüber, gehört ihrerseits, dass sie ihn immer loswerden wollte und nun hilflos erlebt. Aber auch davon gibt es heute nur wenig – so den Satz über den schwankenden Zustand des Vaters: „Ich bekam jeden einzelnen Zyklus von Vergehen und Wiederauferstehen mit.“ Den Eindruck, dass „Otto“ eine Abrechnung, eine wohlgesetzte Boshaftigkeit, sei, vermittelte die Veranstaltung nicht.
Nicht etwa maliziös wirkte die Autorin, dafür sehr klar. Und schien in der Moderatorin ein Pendant zu finden: „Was Familie kann, soll, darf“, dieses Spektrum benannte die Wissenschaftlerin der Bergischen Uni die Thematik und formulierte: „Das verhandelst du in einer Extremsituation. Warum?“ Denn nicht nur Ottos Haltung den Töchtern gegenüber ist alles andere als locker: Ein schwieriger familiärer Aspekt war etwa auch sein Verhältnis zu „Oma“, die er nie im israelischen Haifa besucht hat – oder wie Timna kritisch pointiert: „null Mal“. Warum all dies also nicht in entspannterem Setting vorführen als am Kranken- und Sterbebett?
Suffrin gibt dafür einen persönlich-beruflichen Grund: Als studierte Historikerin führt sie Gespräche mit alten Menschen und kennt deren Bedürfnis, ihr Leben zu erzählen. Aber auch einen literarisch-strategischen, der daraus resultiert, dass man in genau dieser Situation besonders subjektiv erzählt: „Es lässt große Lücken zu.“ Einen interessanten Vergleich findet Banki zwischen dieser Rückschau im Alter und ganz generell dem Schreiben: „Romancieren“ nennt sie diesen freien Umgang mit dem eigenen Leben, auf einer Ebene mit einer Autorinnenhaltung, wie Suffrin sie einnehme. Eigentlich frappierend, doch sie erwähnt es en passant.
Wie sehr der Roman offenbar in durchaus humorigem Tonfall Furchtbares einbettet und so, wenn nicht verhüllt, so doch verpackt: Das ist in Lesung und Gespräch zu erahnen. Otto hat bis ins hohe Alter stets eine Art Notfalltasche parat – voll mit Pässen und sonstigen wichtigen Dokumenten: Falls man einmal schnell fliehen muss. Auch im Gespräch pflegt von Suffrin an dieser Stelle, die zu denen mit realem Vorbild zählt, einen geradezu heiteren Ton: Als Kinder hätten sie und ihre Schwester das gar nicht anders gekannt und für normal gehalten. Erst später und im Vergleich mit anderen Eltern hätten sie gemerkt: „Ein bisschen seltsam.“ Wohlgemerkt geht es aber ja nicht um irgendeinen drolligen Spleen, sondern um die Folgen von Todesgefahr.
Was den Aspekt „jüdisch“ betrifft, fragte Banki: „Ist der Roman jüdische Literatur?“ Von Suffrin: „Diese Figur“, Otto also, „ist bestimmt sehr jüdisch.“ Sie räumte ein, auch mit seiner Darstellung als „Geizkragen“ habe sie sich den Vorwurf eingehandelt, Klischees zu reproduzieren. Zum Rang des Aspekts für den Roman: Von Suffrin stellte das Jüdischsein in eine Reihe mit anderen Eigenschaften des Werks, die doch gleichfalls zum Attribut taugen könnten. Dass es etwa ein „ Debüt-Roman“ sei, könne man ja gleichfalls sagen. Die Autorin ließ erkennen, dass sie den Einordnungen nur bedingt folgt.
Das Autorinnengespräch vermittelt deutlich, dass das Buch nicht als Biografie verstanden werden will, sondern als fiktionale Geschichte mit realen Anleihen. Dennoch insistierte ein Zuschauer hartnäckig auf der Frage, ob das Buch Suffrins verstorbenem Vater gefallen hätte. Und wer im Nachhinein eine Kritik in der „Süddeutschen Zeitung“ liest, findet dort zwar viel Kundiges zur literarhistorischen Einordnung, aber auch die wie selbstverständliche Annahme, dass von Suffrin identisch ist mit „Ottos“ Tochter.
Wie sehr was stimmen muss, in ihrem Roman wie in der Erinnerung ihres Vaters oder auch von anderen, das brachte Suffrin mit einem Satz auf den Punkt, der sorglos klang, aber gar nicht indifferent: „Vieles war wahnsinnig unzuverlässig. Aber ist ja eigentlich auch egal.“
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