Solange sich ein Stapel Bücher vor ihr türmt und sie eine Tasse Tee in der Hand hält, ist alles gut. Die Hektik der Außenwelt ein Stück weit vergessen und einfach mal unter der Bettdecke verschwinden. Für Debbie klingt das nach einem idealen Wochenende. Einfühlsam und mit subtilem Humor erzählt die britische Comic-Autorin und Illustratorin Debbie Tung die Welt aus der Sicht einer introvertierten Person – genau genommen aus ihrer eigenen Perspektive. Denn die Protagonistin ihres Comics „Quiet Girl – Geschichten einer Introvertierten“ ist sie selbst. Im Januar als Hardcover-Ausgabe im Loewe Graphix Verlag erschienen, trifft das Buch mit seiner ehrlichen Schreibart einen Nerv: Tung zeigt ihren Lesern, dass wir alle unterschiedlich sind und verschiedene Bedürfnisse haben – und das ist auch gut so.
Im englischen Birmingham geboren, studierte Tung zunächst Informatik und Modedesign, bevor sie sich ganz dem kreativen Schaffen widmete. In ihren Comics stellt sie Alltagssituationen dar und flicht dabei Erfahrungen aus ihrem eigenen Leben ein. Sie schreibt vom Prozess der Selbstfindung und vom Druck, gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen, von versuchter Anpassung und der damit einhergehenden Anstrengung. Ihr erzählerischer Ton bewegt sich zwischen Situationskomik und Tiefgründigkeit – eine gelungene Mischung, die „Quiet Girl“ zu einem ganz besonderen Buch macht, das sich durch den hohen Bildanteil auch sehr gut als Einstiegsliteratur für Lesemuffel eignet. Schon das Titelbild macht Lust auf die Lektüre und fasst die Stimmung des Buchs auf. Protagonistin Debbie steht nach ihrem akademischen Abschluss vor vielen neuen Herausforderungen: Ihr Bürojob strengt sie an – überall sind Geräusche und in den Pausen möchte sie eigentlich mit niemandem reden, sondern einfach ihre Ruhe haben. Ständig findet sie sich in Situationen wieder, die ihr das Gefühl vermitteln, dass sie irgendwie anders tickt als andere Menschen. Fragen wie „Was stimmt nicht mit mir?“ und „Müssen Erwachsene sich so fühlen?“ gehen ihr durch den Kopf und beschreiben die Unsicherheit, die aufkommt, wenn man nicht ganz in die gesellschaftliche Norm passt.
Die Autorin zeichnet Debbies Weg zu der Erkenntnis, dass ihre Nachdenklichkeit, ihre Sensibilität und ihr Bedürfnis nach regelmäßigem Rückzug, um die „sozialen Batterien“ wieder aufzuladen, keine Makel sind. Ihr wird klar, dass sie sich keine extrovertierten Verhaltensweisen aneignen muss, um gemocht zu werden. Die Autorin zeigt durch ihre schwarz-weißen Mini-Comics, dass man sich nicht verbiegen, sondern stolz auf die eigenen Besonderheiten und Stärken sein sollte. Dabei transportiert sie ein wunderbares Gefühl der Leichtigkeit und Selbstakzeptanz, indem sie in ihren Panels lustige Alltagsszenen und selbstironische Mono- und Dialoge zeichnerisch darstellt, etwa als Debbie sich auf ihrer eigenen Hochzeit zurückzieht, um dem Trubel der Feierlichkeiten zu entkommen, oder indem sie die Symptome eines „sozialen Katers“ auflistet. Ein großartiges Buch für Jung und Alt und jeden, der sich ein bisschen anders fühlt.
Debbie Tung: Quiet Girl – Geschichten einer Introvertierten | Aus dem Englischen von Katharina Hartwell | Loewe Graphix | ab 14 Jahren | 184 S. | 15 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Der Wolf und die Migranten
Markus Thielemann im Ada – Literatur 02/25
Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25
Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25