„Die Erde schlief nackt und gepeinigt wie eine Mutter, der die Decke herabgeglitten war“, schrieb Andrej Platonov. Pierre Michon stellt dieses Zitat an den Anfang seiner Geschichte einer erotischen Obsession, die den Titel „Die Grande Beune“ trägt. Der Ton ist damit angeschlagen, die Erde im Südwesten Frankreichs ist fruchtbar, die Landschaft um das historische Städtchen Castelnau ist unbestreitbar schön. Es regnet in Strömen, als der Erzähler 1961 aus dem Autobus steigt, um seine erste Stelle als Lehrer in der tiefen Provinz anzutreten.
Er lernt die gealterte Wirtin des Ortes kennen, die Bauern, die gerne in den fischreichen Gewässern der Gegend unterwegs sind, und er sieht Yvonne, die den Tabakladen führt. Die freundliche Pracht ihrer Erscheinung, ihre helle Haut, das schwarze Haar, die Offenheit, mit der sie jedermann begegnet – auf die der junge Erzähler selbst aber nicht einzugehen vermag – das alles fesselt ihn. Yvonne vermag ihm nicht mehr aus dem Kopf zu gehen, selbst als eine Freundin ihn besuchen kommt, vermögen ihn deren großzügige Liebesdienste nicht von Yvonne abzulenken. Pierre Michon versteht es mit großem Sprachgeschick diese Leidenschaft aufzuladen. Die Sätze, mit denen er die Tabakhändlerin beschreibt, wechseln zwischen zärtlicher Bewunderung und zupackendem Begehren. Die deutsche Übersetzung von Katja Massury leistet ihrerseits ganze Arbeit.
Nun ist die Literatur nicht arm an süffigen Schwärmereien, bei Michon, dem großen 66-jährigen Außenseiter der Französischen Gegenwartsliteratur, erhält die Erotik jedoch Gewicht und damit Bedeutung. Nicht alleine die Atmosphäre der kleinen Stadt, in der sich die Feuchtigkeit von Regen, nahen Wäldern und Flüssen zu einer schweren, aber auch prickelnden Mischung vereinigt, ist geschwängert mit Verlangen. Das viele Wasser gehört schon immer zu dieser Landschaft, es hat gigantische Felsgewölbe unter der Oberfläche ausgespült, in denen schon vor tausenden Jahren Menschen gelebt haben und ihrer Faszination für alles Lebendige in präzisen Zeichnungen Ausdruck verliehen. Hier wurde gejagt und dem Wild wurde ebenso begeistert nachgestellt, wie heute Yvonne in ihren Nylons und den hohen Schuhen der Weg abgepasst wird.
Michon gibt dem Begehren einen Resonanzraum, nicht nur unter der Erde auch in Form einer schicksalhaften Gemeinheit, da der Lehrer den kleinen Sohn von Yvonne in einem Anfall sadistischer Eifersucht zu quälen beginnt. Diese Yvonne besitzt ein Geheimnis, das wird zumindest von ihr erwartet, wenn sie schon so begehrenswert in ihrem undurchsichtigen Handeln ist. Bei Michon besitzt die Erotik Kraft und Aroma, da ihm die Bilder und die unerhörten Entdeckungen gelingen, die das Verlangen befeuern. Unschuldig ist hier nichts, aber wie kann das auch anders sein, wenn es einem Autor gelingt, eine Geschichte zu entwerfen, die Bilder wie aus einem Film von Patrice Leconte besitzt und deren Spannung bis in den letzten Satz anhält.
Pierre Michon: Die Grande Beune. Deutsch von Katja Massury. Nachwort von Jürg Läderach. Bibliothek Suhrkamp. 104 S., 12,90 Euro
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