Auf dem Cap Ferrat an der Côte d'Azur liegt die Villa Ephrussi. Ein kitschiger kleiner Palast mit einem der schönsten Gärten Europas. Die Villa gehörte einem Nebenzweig der jüdischen Familie Ephrussi, die im frühen 19. Jahrhundert von Odessa nach Wien übersiedelte und in wenigen Jahren mit dem Handel von Weizen zu einem unermesslichen Reichtum gelangte. Nach den Rothschilds waren die Ephrussi die bedeutendste jüdische Bankiersdynastie. Was ist von ihrem Reichtum geblieben? Geblieben ist „Der Hase mit den Bernsteinaugen“, so lautet der Titel von Edmund de Waals Familiengeschichte, die ein faszinierendes Beispiel für die Kunst der literarischen Recherche darstellt. Edmund de Waal lebt in England und hat das Handwerk der Keramik erlernt, unter anderem in Japan bei den Meistern dieser Zunft. Ein Mann, der sich auskennt mit den Finessen feingestalteter Oberflächen.
Von seinem Onkel Ignaz erbte er 264 Netsuke, japanische Miniaturschnitzereien aus Holz oder Elfenbein, die mit einer fantastisch anmutenden Perfektion Tiere wie Hasen, Tiger, Ratten oder Alltagsszenen von Badenden darstellen. De Waal geht der Geschichte der Netsuke nach und rekonstruiert darüber das Schicksal der Ephrussi-Dynastie. Der Clan hatte sich aufgeteilt. Während das Stammhaus in Wien an der Ringstraße errichtet wurde, wo man es noch heute besichtigen kann, wurde ein Teil der Familie nach Paris entsandt. Onkel Charles erwirbt dort die Netsuke, und nicht nur sie – auch die Renoirs, Manets, Degas´, die heute in den großen Museen der Welt hängen. Auf Renoirs berühmtem Gemälde „Frühstück der Ruderer“ ist Charles, der vielleicht wichtigste Mäzen der Impressionisten, mit Zylinder abgebildet.
De Waal rekonstruiert nicht alleine die Genealogie der Familie, sondern er dringt in die historischen Welten des 19. Jahrhunderts ein. Die Maler werden ebenso lebendig, wie die Schriftsteller, Marcel Proust oder die Brüder Goncourt. Wir begleiten Charles in das Ambiente seines Palais, in dessen Zimmerfluchten, bis in sein Schlafzimmer hinein, wo sich eine der einflussreichsten Damen der Pariser Gesellschaft zwischen den Laken räkelt. Alles ist hier zum Anfassen, so jedenfalls vermag uns de Waal diese Welt zu beschreiben. Das eigentliche Thema des Buches ist denn auch das Mysterium der Berührung, dem sich der Engländer ebenso wie seine deutsche Übersetzerin Brigitte Hilzensauer sprachlich souverän gewachsen zeigt.
Im Hintergrund zeichnet sich schon drohend die jüdische Katastrophe ab. Wir erfahren, dass einige der sonnig malenden Impressionisten stramme Antisemiten waren. Freilich stellt sich der französische Antisemit wie ein laues Lüftchen dar, im Gegensatz zum schäumenden Judenhass in Wien. Dorthin wechselt de Waal auf dem Weg seiner Rekonstruktion. In das Bankhaus, in die Ballsäle, Kinderzimmer und Dienstmädchenkammern. Die Belle Epoque betrachtet aus der Perspektive ihrer bedeutendsten Metropolen und ihres gesellschaftlichen Innenlebens, so entfaltet de Waal sie uns, kenntnisreich, detailliert und vor allem mit sinnlichem Fingerspitzengefühl.
Wenn man sich in die Atmosphäre dieser Epoche von Balzac bis Arthur Schnitzler einlesen will, vergnüglicher, als mit diesem Buch, kann man das nur schwerlich bewerkstelligen. Jedem Studenten der Romanistik und der Germanistik sollte man es in die Hand drücken. Hier ist das Gewölbe der Zeit nachgezeichnet und zugleich verliert de Waal nie den Kontakt zur Gegenwart. Beklemmend erlebt man, wie alles unter die Stiefel der Nazis gerät, und welch schmähliche Rolle der österreichische Staat gegenüber den Entschädigungsansprüchen der überlebenden jüdischen Familien bis heute einnimmt. Hat man einmal vom Schicksal des „Hasen mit den Bernsteinaugen“ gekostet, muss man immer wieder zu diesem Buch zurück, in dem das Substrat eines historischen Klassikers enthalten ist.
Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen. Deutsch von Brigitte Hilzensauer. Paul Zsolnay Verlag, 352 S., mit Abb., 19,90 €
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