Was für ein schreckliches Buch. Was für ein schönes Buch. Eines, das seinesgleichen in der Deutschen Literaturlandschaft sucht. Angelika Klüssendorf schien mit ihrem Roman „Das Mädchen“ den Deutschen Buchpreis schon in der Tasche zu haben, und dann kam es doch anders. An der Qualität ihres Textes ändert die Entscheidung der Jury allerdings nichts. Mit einem schmerzhaften Hieb beginnt die Geschichte des sechsjährigen Alex und seiner zwölfjährigen Schwester. „Scheiße fliegt durch die Luft …“ und die Menschen bleiben auf der Straße stehen und schauen zu den Kindern hinauf, die einen Eimer mit ihrem Kot leeren. Was müssen das für Kinder sein, mag man sich fragen. Es sind Kinder, die seit Tagen in einer Wohnung eingesperrt sind. Ihre Aufsässigkeit ist nichts als ein Hilferuf. Sie selbst wissen das nicht und die Erwachsenen möchten es nicht wahrhaben.
Mit den ersten drei Seiten hat Angelika Klüssendorf den Ton ihres Romans angeschlagen. Die Kinder leben alleine mit ihrer Mutter, einer Serviererin, die labil und verzweifelt ist und zum Jähzorn neigt. Das Mädchen schlägt sie manchmal bis zur Erschöpfung. Besser wird es nicht werden, das ist der Zwölfjährigen klar. Aber Kinder brauchen ihre Eltern, auch wenn die sie misshandeln und demütigen. Die Geschichte spielt in der Welt einer Sechziger-Jahre-DDR, die unserer Gegenwart jedoch verdammt ähnlich sieht. Das Mädchen flüchtet, es stiehlt, es lügt, und es wird für fast alles bestraft. Man möchte ihm bei jeder Übertretung Mut zusprechen, denn das alles sind Äußerungen ihrer Vitalität, ihres Überlebenskampfs. Nur nicht aufgeben, diese furchtsame Beklommenheit begleitet einen auf dem Weg durch das Buch.
Als sie wieder einmal im Keller eingesperrt wird, entdeckt sie „Brehms Tierleben“ und betrachtet stundenlang die Illustrationen im Schein eines Lichtspalts. Dieses Streben zum Licht verleiht Angelika Klüssendorfs kleiner Heldin immer wieder Kraft in den Momenten größter Einsamkeit. Kinder können ihr Leid nicht mitteilen, sie verstehen es nicht. Gesehen werden kann es nur von den Lesern, denen Angelika Klüssendorf die Geschichte des namenlosen Kindes erzählt. Die unerklärliche, kreatürliche Kraft des Kindes bildet die Dynamik der Story. Es geht immer weiter und weiter, Angelika Klüssendorf lässt nie nach in der Präzision ihrer Sätze. Sie kennt ihre Protagonistin genau und das Mädchen geht unbeirrt seinen Weg. Für Hoffnung ist hier kein Raum, alleine die Entschlossenheit zu überleben bildet den Energiestrom dieser Erzählung, dem letztlich ein Stück unsentimentaler Optimismus nicht abzusprechen ist.
Angelika Klüssendorf: Das Mädchen | Verlag Kiepenheuer & Witsch | 184 S., 18,99 €
Angelika Klüssendorf liest aus ihrem Roman am 8.11., 20 Uhr | Buchhandlung Klaus Bittner, Albertusstraße 6, Köln
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Die Liebe und ihre Widersprüche
„Tagebuch einer Trennung“ von Lina Scheynius – Textwelten 11/25
Inmitten des Schweigens
„Aga“ von Agnieszka Lessmann – Literatur 11/25
Mut zum Nein
„Nein ist ein wichtiges Wort“ von Bharti Singh – Vorlesung 10/25
Kindheitserinnerungen
„Geheimnis“ von Monika Helfer und Linus Baumschlager – Vorlesung 10/25
Im Spiegel des Anderen
„Der Junge im Taxi“ von Sylvain Prudhomme – Textwelten 10/25
Die Front zwischen Frauenschenkeln
„Der Sohn und das Schneeflöckchen“ von Vernesa Berbo – Literatur 10/25
Alpinismus im Bilderbuch
„Auf in die Berge!“ von Katja Seifert – Vorlesung 09/25
Keine Angst vor Gewittern
„Donnerfee und Blitzfee“ von Han Kang – Vorlesung 09/25
Roman eines Nachgeborenen
„Buch der Gesichter“ von Marko Dinić – Literatur 09/25
Süß und bitter ist das Erwachsenwerden
„Fliegender Wechsel“ von Barbara Trapido – Textwelten 09/25
Geteilte Sorgen
„Lupo, was bedrückt dich?“ von Catherine Rayner – Vorlesung 08/25
Augen auf Entdeckungsreise
„Jetzt geht’s los!“ von Philip Waechter – Vorlesung 08/25
Erste Male zwischen den Welten
„Amphibium“ von Tyler Wetherall – Literatur 08/25
Düster und sinnlich
„Das hier ist nicht Miami“ von Fernanda Melchor – Textwelten 08/25
Die Kraft der Erinnerung
„Das Geschenk des Elefanten“ von Tanja Wenz – Vorlesung 07/25
Eine wahre Fluchtgeschichte
„Wie ein Foto unser Leben rettete“ von Maya C. Klinger & Isabel Kreitz – Vorlesung 07/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25